Abnabelung
Abschiede tun weh. Vertraute und liebgewonnene Personen gehen lassen zu müssen, schmerzt, und es ist, als ob uns ein Teil von uns selbst entrissen wird. Der heutige Feiertag, Christi Himmelfahrt, verweist auf solch einen Abschied, der die Frauen und Männer, die Jesus nachfolgten, niedergeschlagen und verängstigt zurückliess.
In den Abschiedsreden, von denen das Johannesevangelium berichtet, geht Jesus auf diesen Schmerz ein und tröstet die Gemeinschaft mit den Worten: «Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden. […] Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.» (Joh 16,7b.13)
Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, lieber an einer äusseren Autorität festzuhalten und in der als vertraut empfundenen Abhängigkeit zu verbleiben, anstatt den Schritt in die Unsicherheit der Eigenverantwortung zu tun. Jesus wusste darum und ermuntert seine Schülerinnen und Schüler, dass sie auf eigenen Beinen stehen und auf die Hilfe des göttlichen Beistands zählen können.
Die menschliche Entwicklung besteht immer wieder aus Schritten in die Ungewissheit, angefangen bei der Geburt, wo das Kind den warmen Mutterleib verlässt und die physische Verbindung der Nabelschnur getrennt wird. Später lernt das Kind laufen, noch später verlässt der junge Mensch die Familie und baut sich ein eigenes Leben auf. Offenbar wünscht sich Jesus voll entwickelte Nachfolgende, die eigenständig denken und handeln, auf die göttliche Stimme vertrauend, die aus dem tiefsten Inneren spricht. Auch dafür stehen die Feste von Auffahrt und Pfingsten.
Abbildung: Elfenbeinschnitzerei mit einer der ältesten Darstellungen der Auferstehung und Himmelfahrt Christi, vermutlich um das Jahr 400: die sogenannte Reidersche Tafel im Bayerischen Nationalmuseum. Quelle: commons.wikimedia.org.