Altertümlich aktuell

Ich bin Mitglied der Begleitkommission eines im Sozialbereich aktiven Werkes. Für den Präsidenten dieser Kommission hege ich Bewunderung. Er führt uns nämlich mit einer enormen Wertschätzung durch die Sitzungen. Jeder Beitrag wird gleichermassen gewürdigt, und er lässt jedem Mitglied mit derselben Freundlichkeit Raum für dessen / deren Meinung.

Kürzlich gab es zu einem Geschäft eine Abstimmung, weil dezidiert unterschiedliche Ansichten geäussert wurden. Am Ende der langen Sitzung unterliess es der Präsident nicht, sich an die Unterlegenen zu wenden. Er hoffe, dass sie trotz der Niederlage nicht mit einem schlechten Gefühl heimgingen.

Mich beeindruckt dieser ausgesprochen sorgsame Umgang mit anderen Menschen, und ich halte ihn für vorbildlich im Blick auf die Gestaltung demokratischer Prozesse. Diskurs heisst nicht, dass am Schluss alle recht bekommen. Aber es geht darum, zu Wort zu kommen und bei einer Niederlage nicht das Gesicht zu verlieren. So wird der Mut gefördert, zu den eigenen Meinungen zu stehen und sich einzubringen. Damit werden die Prozesse der Entscheidungsfindung reichhaltig, weil viele unterschiedliche Gesichtspunkte einfliessen.

Ein reichlich altertümlich und brav daherkommender biblischer Satz aus dem Kolosserbrief erhält im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen eine ungeahnte Aktualität:

«So bekleidet euch nun als von Gott auserwählte Heilige und Geliebte mit innigem Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut und Geduld!» (Kolosserbrief 3, Vers 12)

Den Wert solcher Tugenden lernt man schätzen, wenn sie plötzlich in Teilen des öffentlichen Diskurses nicht mehr gelten. Sie könnten (wieder) zu Erkennungsmerkmalen einer christlichen Grundhaltung werden.

Abb: https://pxhere.com/de/photo/641914