Ambiguitätstoleranz
«Ich glaube, ich trauere nicht richtig», sagte kürzlich eine Frau zu mir. «Ich habe meinen Grossvater so gern gehabt, aber schon kurz nach seinem Tod meinen Frieden damit gemacht. Ich muss nicht mal mehr weinen.» Die Frau durchlebt gerade eine wahrhaft «ambige» Situation. Ambiguität meint (innere) Widersprüche, Mehrdeutigkeiten oder Unsicherheiten. Auf der einen Seite ist da das eigene Trauer-Erleben, auf der anderen die Vorstellung davon, wie «richtiges» Trauern gehen sollte. Es lässt die Frau verzweifeln, dass sie beides nicht übereinbringen kann.
Was in solchen Momenten hilft ist Ambiguitätstoleranz, d.h. die Fähigkeit von uns Menschen, Widersprüche auszuhalten und anzuerkennen, dass wir in einer Welt leben, in der es nicht immer schwarz oder weiss, richtig oder falsch, wahr oder unwahr gibt, sondern ganz viel dazwischen. Das ist herausfordernd und läuft dem menschlichen Wunsch nach Eindeutigkeit entgegen. Blicken wir in die Welt, die hochkomplex und manchmal auch extrem widersprüchlich und mehrdeutig ist, dann müssen wir feststellen, dass auf politischer Ebene diejenigen Zulauf finden, die einfache Lösungen und Antworten präsentieren. Und dass fundamentalistische Religionsauslegungen Gehör finden, die den einen Weg propagieren, der richtig, gültig, alternativlos ist.
«Ambiges» wird auch durch einfache Antworten oder Fundamentalismus nicht verschwinden. Es ist Teil unserer Realität. Wir werden Personen, Dinge, Ereignisse und Sachverhalte nicht immer eindeutig zuordnen können und manchmal nicht wissen, was richtig und falsch ist. Ein Gedanke des persischen Sufi-Mystikers Rumi hilft hier. Er soll gesagt haben: «Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.»