Auf die Kinder hören!

Bis zum heutigen Tag wusste ich nichts vom Brauch des Kinderbischofs. Dabei breitete er sich im Mittelalter über ganz Europa aus und wurde jahrhundertelang gepflegt. Am Festtag der unschuldigen Kinder, den wir heute feiern, später auch am Neujahrs- oder Nikolaustag, wurde besonders in Kloster- und Stiftsschulen ein Schüler zum „Bischof“ gewählt, standesgemäss eingekleidet und – von «Kaplänen» unterstützt – mit gewissen bischöflichen Handlungen betraut. Für wenige Tage galten amtierende Bischöfe bzw. Äbte als abgesetzt und wurden dadurch ermahnt, mit ihrer Macht verantwortungsvoll umzugehen. Zugleich bekamen junge Menschen eine Gelegenheit, den Erwachsenen ihre wenig beachteten Anliegen mitzuteilen, zum Beispiel mit einer Kinderbischofspredigt. Kritische Stimmen gab es wegen des mancherorts ausufernden Übermuts schon bald, und Reformation sowie Aufklärung bereiteten dem Brauchtum schliesslich ein Ende.

Darstellung eines Kinderbischofs aus Bamberg im 16. Jhd. Quelle: www.commons.wikimedia.org

Den langanhaltenden Erfolg dieser Tradition erkläre ich mir mit dem grossen Bedürfnis von jungen und einflusslosen Menschen, Gehör zu finden und in Entscheidungen einbezogen zu sein, die sie betreffen. Und in der frustrierenden Missachtung dieses Bedürfnisses erkenne ich den Grund für so manche Auswüchse und Ausschreitungen.

«Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.» (Mt 18,3) Das ist eine deutliche Aussage von Jesus, und sie führt uns vor Augen, dass die Kleinen und Unmündigen uns mehr zu sagen haben, mehr sehen und verstehen, als wir im Allgemeinen annehmen. Der heutige Tag mag uns dazu inspirieren, allen Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, unabhängig von Alter, Rang und Status.