• Erwartung

    Vor dem Tor der Stadt saß ein alter Mann. Jeder, der in die Stadt wollte, kam an ihm vorbei. Eines Tages hielt ein Fremder an und fragte den Alten: «Sag mir, wie sind die Menschen hier in der Stadt?» «Wie waren sie denn dort, wo Ihr zuletzt gewesen seid?», fragte der alte Mann zurück. «Wunderbar. Ich habe mich dort sehr wohlgefühlt. Sie waren freundlich, großzügig und stets hilfsbereit.» Daraufhin entgegnete ihm der Alte: «So etwa werden sie auch hier sein.» Bernardo Bellotto (1722-1780); Pirna. Obertor von Süden (Ausschnitt). Bildquelle wikimedia Dann kam ein weiterer Fremder zu dem alten Mann. Er stellte ihm die gleiche Frage: «Sag mir, wie sind die…

  • Zivilcourage

    Ein deutscher Radiosender berichtet jeden Tag über eine gute Sache, die den Zuhörenden Mut machen soll. Gestern ging es um eine Organisation, die sich «Coolrider» nennt. Diese bildet unter dem Motto «hinschauen, wo andere wegschauen» Kinder und Jugendliche als Ehrenamtliche aus, um in öffentlichen Verkehrsmitteln einzugreifen, sollten sie Vandalismus oder übergriffiges Verhalten beobachten.Ein Junge erzählt: «Ich war im Bus und bemerkte, wie ein älterer Herr zwei Primarschülerinnen anbot, sie mit dem Auto nach Hause zu fahren. Es war klar, dass diese sich unwohl fühlten, aber niemand von den Erwachsenen im Bus nahm dies wahr. Die meisten hatten Kopfhörer auf und starrten aufs Handy.» Was als Aufsteller des Tages gemeint war,…

  • Gedanken beim Entkernen eines Granatapfels

    Ich esse gerne Granatapfelkerne. Sie sind süß und sie sind sauer. Sie sind knackig und saftig. Sie sind auch schön anzusehen, wie sie rot leuchtend glänzen. Der einzige Nachteil: Damit ich sie löffelweise essen kann, muss ich erst mal arbeiten. Aber ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, das Entkernen als eine Art meditative Auszeit zu betrachten. Ich schneide in die Schale rund um den Blütenkelch vorsichtig einen Kreis, den ich wie einen Deckel abheben kann. Nun sieht man, dass die Kerne wie Schnitze in einzelnen Kammern angeordnet sind, getrennt durch eine dünne weisse Membrane. Wenn ich die Schale nun den Trennlinien der Schnitze entlang anschneide, kann ich den Granatapfel…

  • Weil wir Menschen sind

    Das Attentat eines muslimischen Jugendlichen an einem jüdischen Mann vom vergangenen Samstag hat mich schockiert. Es ist ein Skandal, dass meine jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Zürich nicht mehr sicher sind. Mich macht es wütend, wenn jemand die Glaubensfreiheit in unserem Land missbraucht, um sie zu zerstören. Ich kann nicht verstehen, wie ein Teenager einen solchen Hass entwickelt, und unzählige Male auf einen Menschen einsticht, nur weil er Jude ist. Zum Glück haben Umstehende besonnen reagiert, den Täter festgehalten und dem Opfer erste Hilfe geleistet. Wenn ich diesem religiös motivierten Hass etwas entgegnen will, kommt mir als Erstes die «Goldene Regel» in den Sinn. Im Volksmund lautet sie: «Was du…

  • Lerchensporn und Krokusse

    Auf der Facebookseite meiner Schwiegermutter finden sich Bilder vieler Frühlingsboten, die nun blühen: Weisser Lerchensporn, gelbe Winterlinge, lila Veilchen, Schneeglöckchen. Meine Schwiegermutter steht neben dieser Fülle und deutet in eine Wiese, die voller Krokusse ist. Das ist nicht ungewöhnlich. Auf Statusbildern, in WhatsApp-Nachrichten, auch auf anderen Facebookseiten sehe ich jetzt solche Bilder. Was mich auf den Seiten meiner Schwiegermutter berührt ist, dass sie 90 Jahre alt ist. Sie hat viele Winter gehen und oft den Frühling kommen sehen.An die neunzig Mal hat sie erlebt, dass die Vögel singen und brüten, dass Knospen an Bäumen aufbrechen, dass die Tage länger und wärmer werden, dass die Kinder im Freien spielen und man im…