• Klare Rede

    Als Kind lebte ich ein paar Jahre im Walliser Dorf Täsch, und einmal erzählte der Lehrer uns während des Unterrichts die folgende Geschichte: Im Tal zwischen Täsch und Zermatt gab es ein Stück Wiese, von dem niemand genau wusste, wem es gehörte, und beide Orte stritten sich um die Eigentumsrechte. So schickten sie nach dem Richter, der dann auch von Visp heraufkam und beide Parteien auf die besagte Wiese bestellte. Am Tag des Lokaltermins ging der Dorfvorstand von Täsch frühmorgens in die Küche, holte einen Sossenlöffel aus der Schublade und steckte ihn unter seinen Hut. Aus seinem Garten nahm er eine Handvoll Erde und tat ein wenig davon in seine…

  • Mit Herz am Puls der Zeit

    «Talent: mittelmässig; Urteilsfähigkeit: mittelmässig; Klugheit: wenig; Lebenserfahrung: mittelmässig; Charakter: melancholisch, ernst» Der Mann, dem dieses nicht sehr schmeichelhafte Zeugnis ausgestellt wurde, war Petrus Claver, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der neuen Welt wirkte. Mit 15 Jahren bereits entschied er sich, in den Jesuitenorden einzutreten, mit 25 Jahren zog es ihn nach Lateinamerika und schliesslich nach Cartagena in Kolumbien. Diese Stadt war damals einer der wichtigsten Umschlagplätze eines aufstrebenden Wirtschaftszweigs, nämlich des Sklavenhandels, der den aus dem Boden schiessenden überseeischen Plantagen Arbeitskräfte zuführte. In dieser Branche gab es viel Geld zu verdienen, und wie so oft blieb dabei die Mitmenschlichkeit auf der Strecke. Petrus Claver sah die…

  • Lebensfreundliche Ordnung

    Kunst und Religion haben die Gemeinsamkeit, dass sie die Gemüter erregen. Vielleicht liegt es daran, dass sowohl ästhetisches Empfinden als auch Glaubensüberzeugungen eng mit der eigenen Identität verbunden sind. In diesem Zusammenhang kann Abweichendes schnell einmal als Störung oder sogar als Bedrohung wahrgenommen werden. Ein Beispiel aus der näheren Vergangenheit passierte auf der Ufenau, der Insel im Zürichsee. Im Sommer 2022 zeigte der Künstler Harald Naegeli dort seinen «Bilderzyklus der Vergänglichkeit» in der Kapelle St. Martin. Allerdings beliess es der Grafikkünstler nicht bei seinen Zeichnungen, sondern schlich sich während eines Medienrundgangs fort und besprayte das Beinhaus der Pfarrkirche Peter und Paul mit zwei Totentanzfiguren. Kunst oder Verschandelung? Die Meinungen gingen…

  • Reflexionen

    Die Bahnhofkirche Zürich präsentiert zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche, welche in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert, ein Kunstwerk. Diesmal wurde es vom Künstler Hans Thomann für den Raum der Stille geschaffen, trägt den Titel «. . . hinter den Wolken . . .» und beleuchtet die Bahnhofkirche als Ort, der sich von der Betriebsamkeit des Hauptbahnhofs abhebt. Wer den Besinnungsraum betritt, entdeckt eine von einem Windzug bewegte Rettungsfolie, die den Schein einer Lichtquelle an die Decke und die Wände reflektiert, so dass die Lichter zu tanzen beginnen. Es sind einfache Alltagsgegenstände, die den Raum und die Atmosphäre verzaubern, die überraschende…

  • Was wir daraus machen

    Worauf ich im Alltag achte, das hat grossen Einfluss auf meine Einstellung gegenüber dem Leben und wie ich mich darin fühle. Dazu eine Geschichte: Eine beliebte Lehrerin kam einmal in ihre Klasse, teilte ein Blatt Papier aus und verkündete: «Heute habe ich einen Überraschungstest für euch.» Auf dem Blatt gab es zum Erstaunen der Lernenden weder Text noch Fragen, nur einen dunklen Fleck auf der Mitte der Seite. Die Lehrerin sagte: «Schreibt bitte in zehn Minuten auf die Rückseite, was genau ihr da seht.» Die Lernenden machten sich gleich an die Arbeit. Nach Ablauf der Zeit sammelte die Pädagogin die Antworten ein und fragte: «Ist es in Ordnung, wenn ich…