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Unverloren
Judentum, Christentum und Islam sind Wortreligionen. Für sie sind die Heiligen Schriften zentrale Säulen des Glaubens. Durch das Wort offenbart sich Gott. Durch das Wort erschafft Gott die Welt. Kein Wunder, dass in den von ihnen geprägten Kulturen die Sprache eine hohe Bedeutung geniesst und die jeweiligen Literaturgeschichten ihre Wurzeln in der religiösen Dichtung haben. Im Dritten Reich wurde die deutsche Sprache durch die Nazidiktatur missbraucht und entwertet. Sie wurde zum Instrument von Propaganda und Macht. Hier schuf das Wort nicht die Welt, sondern raubte der Welt ihre Wirklichkeit. So stellte sich für die deutsche Literatur nach der Katastrophe des Krieges die Frage: Würde man je wieder wahrhaftig und glaubwürdig…
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Völlig losgelöst
«Völlig losgelöst» war 1982 ein Hit von Peter Schilling. Eine eingängige Melodie kommt da mit einem eigentümlichen Text zusammen. Dieser handelt vom Astronauten Major Tom, der mit seiner Rakete abhebt und völlig losgelöst von der Erde schwerelos im All schwebt. Dann registriert das Kontrollzentrum, dass die Raumkapsel vom Kurs abkommt und man Major Tom nicht mehr erreicht. Sein letzter Funkspruch ist ein Gruss an seine Frau. Er aber denkt sich: «Wenn die wüssten. Mich führt hier ein Licht durch das All. Das kennt ihr noch nicht, ich komme bald. Mir wird kalt.» Das Lied spricht eine tiefe menschliche Sehnsucht an: Alles Schwere und Belastende ablegen zu können, in einen anderen…
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Rhetorikmangel
Vor knappen drei Wochen wurde ein neuer Papst gewählt: Leo XIV. Und natürlich ist schon alles Mögliche über ihn geschrieben worden. Eine Auffälligkeit, die für eine öffentliche Person bemerkenswert ist, wurde allerdings selten kommentiert: Leo liest seine Reden oder Predigten vom Blatt ab. Sogar bei seinem allerersten Auftritt nach der Wahl – auf der Benediktionsloggia des Petersdoms – hat er das getan. Dieser Mann blickt konzentriert auf seine Notizen und kaum zu den Menschen, zu denen er spricht. Jede:r Kommunikationstrainer:in würde das kritisieren und es ihm auszutreiben versuchen. Als Papst muss man doch die Leute erreichen! So findet kein Kontakt zu den Zuhörenden statt! Wo bitte bleibt die freie Rede?…
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Durch alle Dinge geht ein Riss
Seit wir im Englischunterricht am Gymnasium den kryptischen Text seines Liedes «Suzanne» zu enträtseln versuchten, fühle ich mich dem Sänger und Songwriter Leonard Cohen verbunden. Weniger als Namensvetter, denn als tiefbohrender, tiefsinniger Literat und Gottsucher. Diese Suche führte ihn während 4 Jahren auch in ein Zen-Kloster nahe Los Angeles. Trotz dieses Abstechers in die buddhistische Spiritualität blieb Cohen seiner jüdischen Tradition und Religion im Innersten verbunden. So etwa entstammt die vielzitierte Pointe aus dem späten Song «Anthem» der Kabbala, dem Hauptwerk jüdischer Mystik: „There is a crack in everything.“ Ins Deutsche übersetzt: Durch alle Dinge geht ein Riss. Für alle diese Risse, Brüche und Brechungen, die die Welt so…
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…und die ganze Welt wird blind sein
„Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Viele verbinden dieses Motto aus dem Ersten Testament mit einem erbarmungslosen Rachedenken, das im alten Israel gegolten haben soll. Wer jemandem ein Leid zufügt, der verdiene die Rache der Geschädigten und also dasselbe Leid. Allerdings ist genau dies nicht gemeint. Vielmehr haben wir es hier mit einer frühen Entwicklung zu einer geordneten Rechtsprechung zu tun. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern so: Wer einem anderen Menschen Schaden zufügt, schuldet eine Kompensation. Diese soll dem Schaden angemessen sein – als Wiedergutmachung. Das Prinzip richtete sich also gerade gegen willkürliche Selbstjustiz. In einem Text von israelitischen Gelehrten aus der Zeit…