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Ausstrahlen
Ende letzten Jahres wurde die berühmte Kathedrale Notre-Dame in Paris wieder eröffnet. 2019 war sie durch einen Brand schwer beschädigt worden. Nun steht sie in neuer Pracht da, und Menschen aus aller Welt besichtigen das Bauwerk. Es fällt auf, dass die meisten Besuchenden sich v.a. für die historische Substanz der Kirche interessieren. Also auch für das, was nach dem Brand im historischen Stil rekonstruiert wurde. Aber eigentlich gibt es viel Neues zu entdecken. So wurde die liturgische Ausstattung vollständig ersetzt: Altar, Ambo, Altargestühl, Taufstein. Leider scheinen die meisten Menschen diese Elemente kaum zu beachten. Dabei sind die Arbeiten, die vom Designer und Bildhauer Guillaume Bardet geschaffen wurden, von zeitloser, formschöner…
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Im kühlen Fluss
Die Tage sind heiss. Ein Bad im kühlen Fluss tut gut. So laufe ich den Fluss entlang und weiss, dass ich in wenigen Minuten in ihn hineinspringen werde und mich einfach wieder hinuntertragen lassen kann, ohne etwas tun zu müssen: mich treiben und abkühlen lassen. Oft habe ich das Gefühl, dass ein Flussbad mindestens eine Stunde Psychotherapie im Leben ersetzt – es macht so glücklich. Und dann ist solch ein Bad für mich auch eine stimmige Allegorie für den Begriff «Gnade» im christlichen Verständnis. Das meine ich so: Gnade ist einfach da, ohne Vorbedingung, für alle. Gnade meint, dass ich von Gott wahrgenommen, bejaht und geliebt werde. Einfach so, weil…
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Finke Fränzi
Der Name Dosenbach ist wohl nicht nur für mich mit billigen Schuhen ohne besonderen Pfiff und Stil verbunden. Wenn man was Besonderes will, geht man woanders hin. So wusste ich denn auch nicht, dass Dosenbach nicht immer ein deutscher Konzern war, sondern ursprünglich eine Schweizer Traditionsfirma. Ich verdanke diese Horizonterweiterung einer Aktion zur kürzlich zu Ende gegangenen Fussball-Euro der Frauen. Zürich wies mit Stelen im öffentlichen Raum auf «Starke Frauen» hin, die in der Stadt Spuren hinterlassen haben. Eine dieser Frauen ist Franziska Dosenbach. Sie war ab 1853 mit einem Sattler im aargauischen Bremgarten verheiratet und begann, fabrikgefertigte Schuhe aus dem Ausland einzuführen und zu verkaufen. Nach dem Tod ihres…
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Nicht herstellbar
Viele Jahre lang war die Frau Gemeindekrankenschwester. Tags und nachts unterwegs, um Kranke zu versorgen. Sie kann ihre Situation also bestens einschätzen: Die Lähmung nach dem Hirnschlag wird bleiben, und sie wird im Pflegezentrum bleiben. Aber es bereitet ihr Mühe, sich plötzlich als Hilfsbedürftige zu erfahren. So ist sie froh, dass der Pfarrer regelmässig vorbeikommt. Mit ihm kann sie über alles reden, erlaubt sich auch mal Tränen. Oft schliessen sie die Gespräche mit einem Unservater-Gebet ab. Heute sagt sie: «Darf ich Sie bitten, mir dabei die Hand zu halten?» Der Pfarrer tut es. Es ist ein dichter Moment. Beim nächsten Besuch ist sie ganz bewegt. Sie habe nach dem Gebet…
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Stetige Veränderung der Sachlage
Ich schaue der Sanduhr zu. In einem geraden Strahl rieselt der Sand nach unten.Es ist nicht spektakulär. Es scheint immer dasselbe zu sein: In einem geraden Strahl rieselt der Sand nach unten. Es scheint immer dasselbe zu sein, aber es ist nicht langweilig. Es beruhigt mich.Und es ist auch überhaupt nie dasselbe. Denn stetig verändert sich die Sachlage. Der Sand oben nimmt ab. Der Sand unten wächst an. Von Hundertstelsekunde zu Hundertstelsekunde. Was tue ich da eigentlich? Ich sehe der Zeit beim Verrinnen zu. Tue ich also nichts? Nein, es ist aktives, beteiligtes Schauen. Ein Da-Sein im Dasein. Ich lebe den Moment und bin mir bewusst, dass er immer schon…