• Ein Riss durchs Schöne

    Vermutlich ist es nicht Absicht des Künstlers gewesen. Wahrscheinlich ist dieser Riss erst später ins Holz gekommen. Aber er ist da, klar und deutlich: Der Holzkasten, in den die diesjährige Weihnachtskrippe der Bahnhofkirche hineingebaut wurde, hat in der Hinterwand einen langen Riss. Vertikal geht er durch das Zentrum der Szene, wo die Heilige Familie zu sehen ist: Das Jesuskind in der Mitte, rechts Josef, links Maria. Das ist sinnig. Gerade in einer Darstellung, die sonst so farben- und lebensfroh ist, in der so sehr von einer guten Schöpfung erzählt wird! Denn es gehen Risse durch unsere bunte und schöne Welt. Ein Blick auf das zu Ende gehende Jahr genügt: Der…

  • Engelseinbruch

    Der weltberühmte Isenheimer Altar in Colmar zeigt unter anderem die biblische Szene, in der Maria durch den Engel Gabriel verkündet wird, der Heilige Geist werde über sie kommen, sie werde schwanger werden und einen Sohn gebären. Dieser werde heilig sein und Sohn Gottes genannt werden. Aber was für eine Darstellung das ist! Dieser Engel scheint von rechts hineingestürmt zu kommen. Wild wehen sein Gewand und seine Haare. Sein Blick ist entschlossen, beinahe streng, und zusammen mit den Maria entgegengestreckten Fingern wirkt es fast so, als wolle er die Frau hypnotisieren. Die schient von dem Ereignis wie überfahren zu werden. Sie weicht mit dem Oberkörper zurück und wendet ihr Gesicht ab.…

  • Eine Schöpfungskrippe in der Bahnhofkirche

    Seit gestern kann in der Bahnhofkirche wieder eine Krippe entdeckt werden. Sie stammt aus Peru, wurde vom Künstler Maximiano Ochante Lozano geschaffen und ist eine Leihgabe des Krippenmuseums in Stein am Rhein. Aber es handelt sich um viel mehr als um eine Krippe. Was hier nicht alles zu sehen ist! Gott der Schöpfer rechts oben. Sonne, Mond und Sterne, unglaublich viele Tiere. Pflanzen, Wasser, ein Berg. Die Tafeln mit den 10 Geboten. Und dann doch auch – im Zentrum – die Heilige Familie. Gewichtige Themen des Glaubens werden aufgenommen: Die Schöpfung der Welt durch Gott, der Himmel und Erde, Wasser und alle Lebewesen schafft. Dann fällt aber auf, dass die…

  • …wird dies mein Auge Gott doch sehn

    November, und sie war alleine auf Rhodos. Sie hatte dringend eine Auszeit gebraucht. Die Trennung von ihrem Mann, der Auszug in eine kleine Wohnung, dazu die viele Arbeit. Das war zu viel gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie allein in den Ferien. Jetzt sass sie an diesem endlos langen Strand, nirgends jemand zu sehen. Vor ihr das Meer, die Wellen, die in regelmässigem Rhythmus auf sie zurollten und im Sand ausliefen. Sie hatte den Kopfhörer aufgesetzt und hörte den Messias von Händel. „Ich weiss, dass mein Erlöser lebet…“, sang eine Frau. So innig, so feierlich klang das in ihren Ohren. Und sie hörte und schaute über den…

  • Ein anderer Raum

    “Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ Die Besinnungen und das Abendgebet in der Bahnhofkirche beginne ich jeweils mit dieser Formel. Mit dem Fachbegriff bezeichnet man sie als „Invocatio“, was „Anrufung“ bedeutet. Gott wird angerufen. Und so ist es ja eigentlich in jedem christlichen Gottesdienst. Damit will man zum Ausdruck bringen, in wessen Namen die Feier stattfindet. Im Verlaufe der Jahre ist mir die Invocatio wichtiger geworden. Vielleicht, weil gleichzeitig mein Glaube immer alltäglicher und nüchterner geworden ist und ich mich viel mit pragmatischen Dingen des Lebens beschäftige. Da tut es mir gut, zu Beginn einer Besinnung einen Wechsel zu markieren. Was wir jetzt tun,…