• …und die ganze Welt wird blind sein

    „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Viele verbinden dieses Motto aus dem Ersten Testament mit einem erbarmungslosen Rachedenken, das im alten Israel gegolten haben soll. Wer jemandem ein Leid zufügt, der verdiene die Rache der Geschädigten und also dasselbe Leid. Allerdings ist genau dies nicht gemeint. Vielmehr haben wir es hier mit einer frühen Entwicklung zu einer geordneten Rechtsprechung zu tun. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist nicht wörtlich zu verstehen, sondern so: Wer einem anderen Menschen Schaden zufügt, schuldet eine Kompensation. Diese soll dem Schaden angemessen sein – als Wiedergutmachung. Das Prinzip richtete sich also gerade gegen willkürliche Selbstjustiz. In einem Text von israelitischen Gelehrten aus der Zeit…

  • Beschenkende Leere

    Über meine Erfahrungen und Schwierigkeiten mit dem Meditieren habe ich am Montag im Weg-Wort berichtet, insbesondere vom unangenehmen Erleben der inneren Leere, die mir anfänglich viel Mühe und Angst bereitet hatte. Mit der Zeit stieg in mir die Erkenntnis auf, dass mein Verhältnis zu diesen ungreifbaren dunklen Abgründen so einiges über mein Gottesverständnis aussagt. Denn wer war Gott für mich, wenn mir die Erfahrung der Leere so unerträglich und bedrohlich erschien? Ist Gott einer, der sich von gewissen Orten zurückzieht und mich – und viele andere Menschen – der Verlassenheit und ihrem Schicksal überlässt? Oder ist er zwar da, aber im Hintergrund lauernd, unerkennbar und genau beobachtend, wie ich mich…

  • Josef, queer gelesen

    Die biblischen Erzählungen um Josef sind vielen bekannt. Josef ist der Lieblingssohn Jakobs, ist aber bei seinen elf Brüdern verhasst. Sie verkaufen ihn als Sklaven. So gelangt er nach Ägypten, wo er es dank seiner Fähigkeit, Träume zu deuten, bis zum Statthalter bringt. Als eine Hungersnot ausbricht und seine Brüder in Ägypten um Hilfe ersuchen, kommt es zur Versöhnung. Am Ende ziehen sie zusammen mit Vater Jakob zu Josef und lassen sich in Ägypten nieder. So weit, so vertraut. Aber es gibt noch ganz andere Seiten an Josef, die kaum bekannt sind. Ich bin durch den Bericht eines Kollegen darauf gestossen. Es ist nämlich auffällig, wie stark im biblischen Text…

  • Im Grunde sind wir alle eins

    Eine der bekanntesten jüdischen Überlebenden des Holocaust, Margot Friedländer, ist am 9. Mai kurz nach ihrem letzten Auftritt bei der Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Ausschwitz vor 80 Jahren im hohen Alter von 103 Jahren verstorben. Bis in die letzten Lebenstage hinein hat sie als Zeitzeugin ihre Stimme erhoben gegen das Vergessen und zugleich für eine Menschlichkeit plädiert, die selbst den Peinigern zu vergeben vermag. Was für ein Mensch! Eine Parallelgeschichte solch menschlicher Grösse findet sich auch im Buch «Bei Nacht und Nebel» des Buchenwald-Überlebenden ungarisch-jüdischen Intellektuellen Eugene Heimer. Anbei sein Zeugnis. «Es war in Buchenwald, dass ich von Juden, Christen, Muslimen und Heiden, von Briten, Serben, Rumänen, Polen und Italienern…

  • Horror vacui

    Während meines Theologiestudiums lernte ich verschiedene Religionen kennen und dabei wuchs in mir das Interesse an der spirituellen Praxis des Meditierens. Es ging eine Faszination davon aus, mich ganz im Hier und Jetzt einzufinden ohne mich mit Inhalten oder Gedanken zu beschäftigen. Beim Üben der Meditation stiess ich immer wieder auf unangenehme Gefühle, auf eine Langeweile und eine innere Leere, die mir Angst machte; es war mein geistiger «horror vacui», mein Schrecken vor der Leere, dem ich da begegnete. Der französische Gelehrte Blaise Pascal beschrieb es so: «Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung.…