Da dem Fernen

Ganz vertraut dem Unvertrauten,
nah dem Fremden,
da dem Fernen,
leg‘ ich meine Hände in die Deinen.

Auf einer Karte, die ich zu Weihnachten erhalten habe, steht dieses Gedicht der deutsch-US-amerikanischen politischen Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt (Hannah Arendt, Ich selbst, auch ich tanze, Die Gedichte, Piper München Berlin Zürich, 2015).

Ich fühle mich darin als Erstes an das wundersame Ereignis der Liebe erinnert: Ein Mensch, den ich nicht gekannt habe, der unabhängig von mir aufgewachsen ist, eine andere Geschichte hat; ein mir fremder Mensch wird mir nah wie kein anderer! Sein unvertrauter Körper wird vertraut, seine fremde Familiengeschichte kommt mir nah, sein Fernsein wird zu einem kontinuierlichen Da! Und doch bleibt dieser Mensch in aller Vertrautheit auch ein Unvertrauter. Wie ist sie, wenn sie allein in der Wohnung ist? Welche Gedanken denkt er, von denen er mir nie erzählt? Wie fühlt sich das an, in ihrem Körper zu sein?
Es ist ein wundersames Ereignis, dass es Liebe gibt und dass sie oft gelingt.

Kann das Gedicht aber auch für meinen Glauben sprechen? Vermutlich hat Hannah Arendt dies nicht beabsichtigt. Trotzdem kann ich ihre Worte so lesen. Im Glauben übe ich mich ins Vertrauen ein zum unvertrauten, fernen, fremden Gott. Und manchmal fühlt sich Gott nah an. Im Bild gesprochen lege ich meine Hände in seine/ihre und versuche, aus diesem Halt heraus zu leben.
Ein wundersames Ereignis, dass es Glauben gibt und dass er oft gelingt.

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