Das Leben spielend meistern
Die Haida sind eine Nation, die seit Jahrtausenden in der Region Nordwest-Kanada/Alaska lebt. Kürzlich bin ich auf den Entstehungsmythos des Volkes gestossen. Er lautet so:
„Der Rabe war unglücklich, weil er nirgendwo Lebewesen antraf und mit niemandem Streiche aushecken konnte. So flog er weg und blickte und lauschte mit seinen scharfen Augen und Ohren, um ja kein Lebenszeichen zu verpassen. Er rief in den Himmel in der Hoffnung, dass jemand antworten würde. Da hörte er unter sich einen Laut. Er glitt hinab und fand eine grosse Muschel, die kleine Kreaturen in sich barg. Die fürchteten sich vor der Welt und wollten ihre Muschel nicht verlassen. Der Rabe aber wollte mit ihnen spielen und stiess einen Lockruf aus, um sie aus ihrer Muschel herauszuholen. Sie hatten zwei Beine wie er, aber blasse Haut, keine Federn und langes, schwarzes Haar. Das waren die ersten Haida-Menschen.“
Diese Erzählung ist vor einem ganz anderen Hintergrund entstanden als unsere jüdisch-christlichen Vor-stellungen über den Anfang menschlichen Lebens. Gerade deshalb finde ich es bemerkenswert, dass die ersten Menschen sowohl in der biblischen Geschichte vom Garten Eden wie hier einen Prozess durchmachen müssen – fast wie eine Geburt – um in der Wirklichkeit dieser Welt anzukommen.
In der Bibel ist der Garten Eden ein Ort der Geborgenheit und Unschuld. Der Drang nach Erkenntnis von Gut und Böse führt zum Verlust dieses Zustandes. Nun müssen die Menschen in die Welt hinaus. Im Haida-Mythos bietet die Muschel Schutz. Aber die Verlockung des Vogelrufs ist stärker und lässt die Menschen ihre Angst vor der Welt überwinden.
Dass es in der Weltwirklichkeit dann Scheitern und Leiden gibt, darauf verweisen die biblischen Texte in grosser Klarheit. Deshalb hat mich der Haida-Mythos zum Lächeln gebracht. Er zeigt mir noch andere Aspekte auf: In der Welt warten Lebewesen, die meine Gesellschaft suchen und spielen wollen. Also: Ab ins Leben!
Abb: Bill Reid, Raven and the first Men, 1980, Museum of Anthropology, Vancouver, Kanada. Foto: Wee Sen Goh, 2011. Quelle: flickr