Das Testament des Johannes
Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing berichtete vom heiligen Apostel Johannes eine kleine Legende: Dieser liess selbst im hohen Alter keinen Gottesdienst zu Ende gehen, ohne eine Ansprache an die christliche Gemeinde von Ephesus zu richten. Hoch studiert waren seine Predigten nicht. Sie waren schlicht und kurz, und sie kamen immer ganz aus dem Herzen.
Je älter der Apostel wurde, umso einfacher und kürzer wurden seine Ansprachen, bis er sie schliesslich auf die Worte reduzierte: „Kinderchen, liebt euch!“ Zuerst gefiel den Leuten dieser knappe Aufruf sehr. Als Johannes auch in den darauf folgenden Gottesdiensten nichts anderes sagte als „Kinderchen, liebt euch!“, führten sie es auf seine Altersschwäche zurück. Ganz egal, wie sein Zustand war, seine Predigten bestanden fortan nur noch aus diesem einen Satz: „Kinderchen liebt euch!“
Mit der Zeit waren einige in der Gemeinde der ständigen Wiederholungen überdrüssig, und man beschloss, mit dem alten Apostel ein Gespräch zu führen. Sie gingen also und fragten ihn: „Meister, warum sagst du denn nach den Gottesdiensten immer bloss das Gleiche?“ Johannes antwortete: „Darum, weil es der Herr uns geheissen hat. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, wirklich und wahrhaftig genug ist.“
Am heutigen Tag gedenkt die Kirche des Apostels Johannes. Man könnte ihn als den Apostel der Liebe bezeichnen. Es geht ihm nicht um irgendein schönes Gefühl, sondern um eine das ganze Leben durchwirkende Haltung, auf die wir uns täglich neu einstimmen können. Johannes schrieb sogar: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe.“ (1. Joh 4,8)