Den Opfern eine Stimme geben

«Wo ist dein Bruder Abel?», fragt Gott Kain, nachdem dieser Abel umgebracht hat. Und als Kain der Frage ausweichen will, doppelt er nach und sagt: «Was hast Du getan? Das Blut deines Bruders erhebt die Stimme und schreit zu mir.»

Kain und Abel. Ausschnitt aus einem Gemälde von Barbara Heinisch.
Bildquelle: wikimedia.commons

Gott gibt damit dem Opfer von Gewalt eine Stimme, weil das Opfer selbst nichts mehr sagen kann. Er macht seine stummen Schreie hörbar und lässt nicht locker, damit der Täter nicht einfach so weitermachen kann wie bisher.

Er fragt nicht nach den Ursachen, die zur Tat geführt haben. Nicht danach, was man vielleicht ändern müsste, damit so etwas nicht mehr vorkommt.

Gott fragt zuerst: Wo ist deine Schwester? Wo ist dein Bruder?

Wo sind die, die auf der Strecke geblieben sind, und um die sich niemand gekümmert hat?

Wo sind die, die sich verabschiedet haben, weil man ihnen gesagt hatte, sie hätten doch Verständnis zeigen und verzeihen sollen?

Wo sind die, die jahrzehntelang schwiegen, weil die Angst sie sprachlos gemacht hat und sie daran hinderte zu erzählen, was ihnen angetan wurde?

Wo sind die, die verschwunden sind, nachdem sie lächerlich gemacht wurden, weil sie sich trauten etwas zu sagen?

Wo sind die, denen gesagt wurde, sie sollen sich doch nicht so anstellen, und denen vorgeworfen wurde, sie seien selbst schuld an ihrem Leid?

«Wo ist dein Bruder Abel?»
Die Frage nach den Opfern kommt zuerst.