Der Berg hinter blauem Dunst

Das Auge sagte eines Tages: «Ich sehe da hinter diesen Tälern im blauen Dunst einen Berg. Ist er nicht wunderschön?» Das Ohr lauschte und sagte nach einer Weile: «Wo ist der Berg, ich höre keinen!» Darauf sagte die Hand: «Ich suche vergeblich, ihn zu greifen. Ich finde keinen Berg!» Die Nase sagte: «Ich rieche nichts, da ist kein Berg!» Da wandte sich das Auge in eine andere Richtung. Die andern diskutierten weiter über diese merkwürdige Täuschung und kamen zum Schluss: «Mit dem Auge stimmt etwas nicht!» Khalil Gibran (1883-1931)

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Das Auge sieht den Berg in der Ferne. Und doch zweifeln die anderen Sinne seine Wahrnehmung an. Mich hat Gibrans Gleichnis an das erinnert, was passiert, wenn man sich über die Existenz Gottes Gedanken macht. Wir leben in einer Welt, die das gelten lässt, was messbar, greifbar, beweisbar ist. Doch nicht alles, was wahr ist, lässt sich hören, riechen oder anfassen.

Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph und Theologe, sagte einmal: «Der Glaube beginnt gerade dort, wo das Denken aufhört.» Der Glaube an Gott ist also ein mutiger Schritt in eine tiefere Dimension der Wirklichkeit, die mit dem Verstand nicht bis zuletzt durchdrungen werden kann. Manchmal ist es eben das Herz, das erkennt, was die Augen nicht sehen und die Vernunft nicht begreifen kann. Gott offenbart sich nicht immer laut oder offensichtlich – oft wirkt er leise und im Verborgenen.

Gibrans Gleichnis sagt mir deshalb auch: Hab mehr Vertrauen in das, was in dir leise und klar zugleich spricht, was dir dein «inneres Auge» zeigt. Auch wenn nicht alle es sehen – vielleicht existiert es ja doch; wie Gibrans Berg hinter blauem Dunst.