Der Freiraum Gottesdienst
Die Gottesdienste in der psychiatrischen Klinik, in der ich einige Jahre gearbeitet habe, zeichneten sich durch ein besonderes Element aus: Im ersten Gebet gab es einen Moment, in dem die Teilnehmenden nach vorne kommen und einen persönlichen Beitrag leisten konnten. Danach zündeten sie ein Teelicht an und begaben sich wieder an ihren Platz. Vieles kam da zusammen: Bitten für sich selbst und andere, Dank, Gotteslob – und manchmal auch einfach Gedanken oder Meinungsbeiträge, die man mit den Anwesenden teilte.
Je nach persönlicher Verfassung fielen diese Äusserungen unterschiedlich aus. Wer in einer seelischen Krise steckt oder einen Verwirrungszustand erlebt, nimmt die Realität anders wahr. Für Aussenstehende waren die Aussagen deshalb manchmal irritierend und kaum einzuordnen. Zuweilen stellten sie sich völlig quer zur Alltagswirklichkeit. Oft waren sie auch sehr persönlich und deshalb zutiefst berührend.
Erst mit der Zeit erkannte ich die Wichtigkeit dieses Teils des Gottesdienstes. Er stellte einen Freiraum dar, in dem man sein konnte, wie man war und in dem man – mit seltenen Ausnahmen – von den andern respektiert wurde.
Hier wurden die eigene Wahrnehmung und das Verhalten nicht diagnostiziert, kommentiert oder bewertet. Nichts davon kam in die Krankengeschichte.
Es blieb so stehen, wie es war, vor Gott und geteilt mit der Gemeinschaft.
Die Erfahrung zeigte mir, was Gottesdienst sein könnte und manchmal auch ist: Ein Freiraum, in dem ich sein kann, wie ich gerade bin. Ein Raum, in dem ich angenommen werde. Wenn auch nicht immer von den Menschen, so doch von Gott.
Foto: Gottesdienst, Stepfist, 2012, Wikimedia Commons