Der Griff nach der Welt
Das Bild zum heutigen Weg-Wort zeigt eine Frau mit einem Kleinkind. Sie zieht den Zweig eines Apfelbaums zu dem Kind, und dieses greift nach der Frucht.
Schön und idyllisch wirkt, was die amerikanische Malerin Mary Cassatt da 1893 geschaffen hat. Oft hat sie Bilder aus dem Leben von Frauen gemalt. Und wichtig war ihr das Thema „Mutter und Kind“.
Aber halt mal! Eine Frau, eine idyllische Umgebung und ein Baum mit verlockenden Früchten? Wer sich ein bisschen in der Welt des jüdisch-christlichen Glaubens auskennt, merkt, dass dieses Bild nur vordergründig harmlos ist. In der sogenannten „Sündenfall-Erzählung“ im Buch Genesis ist es Eva, die erste Frau, die sich dazu verleiten lässt, im Paradies eine Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Traditionell wird dies als Sünde verstanden, die für die Menschen die Vertreibung aus dem Paradies und das Leben in dieser unserer Welt mit ihren Widersprüchen, mit Leid, Konflikten und Tod zur Folge hatte. Evas Griff nach der Frucht wird negativ bewertet: als Heilsverlust.
Mary Cassatt spielt mit diesen Motiven, bringt aber eine andere Wertung ein: Das nackte Kind – wohl eine Anspielung auf den paradiesischen Urzustand, denn auch Adam und Eva sind in der Bibel vor dem Sündenfall nackt – greift neugierig nach der Frucht, so wie Eva es tat. Die Mutter verwehrt es ihm nicht, sondern zieht den Zweig herab. Als ob die Malerin sagen wollte: Es ist richtig, über Gut und Böse urteilen zu können. Man verliert damit zwar die kindliche Unschuld, das Aufgehoben-Sein in einem Urzustand, und man wird nun verantwortlich für sein Handeln. Aber man gewinnt Freiheit, Kompetenz und Weisheit.
Die Mutter auf diesem Bild – sozusagen die Erbin der Urmutter Eva – ist nicht die Sünderin, sondern die selbstbewusste Weise, die Mut macht, sich der Welt zu stellen.
Abb: Mary Cassatt, Child Picking a Fruit, 1893, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond, USA. Foto: Privat