Der rechte Massstab

Die Krippe in der Bahnhofkirche besteht dieses Jahr hauptsächlich aus einem vom Gebrauch gezeichneten hölzernen Wagenrad. Einzelne Besuchende im Raum der Stille haben verwundert gefragt, was für eine Bedeutung darin zu finden ist. Im religiösen Zusammenhang kommt das Rad durchaus vor, etwa im Buddhismus, wo es den edlen achtfachen Pfad zur Erlösung symbolisiert. Der Einsiedler Niklaus von Flüe nutzte die Abbildung eines Rades als Gegenstand spiritueller Meditation. Aber warum ein Rad als Krippendarstellung?

In der technischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte gilt die Erfindung und Verwendung des Rades als bedeutender Meilenstein. Mit seiner Hilfe konnten Dinge wesentlich schneller und leichter transportiert werden, Mobilität und Handel über weite Strecken wurde auch auf dem Landweg möglich. Die Entwicklung von Maschinen wäre ohne das Rad undenkbar. Viele verbinden mit der Nutzung des Rades das Voranschreiten der Zivilisation.

Ist Fortschritt gleich Zivilisation? Die Anthropologin Margaret Mead deutet Zivilisiertheit anders und ein prähistorischer menschlicher Oberschenkelknochen gilt ihr als Beleg. Der Knochen zeigt einen verheilten Bruch, und die Forscherin deutet ihn so, «dass sich jemand die Zeit genommen hat, bei dem Gestürzten zu bleiben. Er verband seine Wunde, brachte ihn in Sicherheit und kümmerte sich um ihn, während er sich erholte. Zu dem Zeitpunkt, an dem einem anderen Menschen in Not geholfen wurde, da begann die Zivilisation».

Im Zentrum des Rades befindet sich – ganz klein – eine Heilige Familie. Sie litt Not durch die Entscheidungen von Mächtigen und war der Verfolgung ausgesetzt. Wo Menschen sich von solcher Not zum Handeln bewegen lassen und Verantwortung übernehmen, beginnt ein zivilisiertes Miteinander. So tat es Josef, der sich ganz für Maria und ihr Kind einsetzte, obwohl er nicht als leiblicher Vater galt. Der rechte Massstab für Zivilisation ist die Menschlichkeit, die in ihr herrscht. Auch das ist eine Botschaft der Wagenrad-Krippe und von Weihnachten.