Die eine Stufe
Der vor 100 Jahren verstorbene Schriftsteller Franz Kafka hat in seinem „Brief an den Vater“ ein prägnantes Bild geschaffen, um die Persönlichkeit des Sohnes mit der des Vaters zu vergleichen:
„Es ist so wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber so hoch ist, wie jene fünf zusammen; der Erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern noch hunderte und tausende weitere, er wird ein grosses und sehr anstrengendes Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den Zweiten jene eine, erste, hohe, für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf und über die er natürlich auch nicht hinauskommt.»
Der Vergleich bezieht sich konkret auf die Bedeutung des Heiratens, die für den Vater eine Stufe im Leben neben anderen ist, für den Sohn aber diejenige, die er nie erreicht.
Mir scheint, das Bild lasse sich auch auf viel grundsätzlichere Gegebenheiten beziehen. Es bringt für mich auf den Punkt, dass Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen im Leben stehen und unterschiedliche Möglichkeiten haben, dasselbe zu erreichen. Körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, genetische Prägungen sind das eine, das andere die sozialen Verhältnisse, in denen wir aufwachsen und die Prägungen durch unser Umfeld.
Von aussen betrachtet hat man dann schnell das Gefühl, jetzt habe jemand es „endlich“ geschafft. Und es wäre ja mit mehr Fleiss schon schneller gegangen und mehr möglich gewesen. Wenn man genau hinschaut, stellt man aber fest, dass er/sie gerade diese eine hohe Stufe gemeistert und eine enorme Leistung erbracht hat.
Die Evangelien zeichnen ein Bild von Gott, der/die Menschen nicht aufgrund dessen beurteilt, wie viel sie erreichen, sondern sie anerkennt, wie sie sind.
Foto: Holger Feulner. Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/treppe-architektur-stufen-stein-1992144/)