Die Einsiedlerin am Brunnen

Eines schönen Sommertags spazierten zwei Freunde bei einer Einsiedelei vorbei. Dort wohnte eine Eremitin, die gerade mit ihrem Eimer zum nahegelegenen Brunnen ging. Die Männer sprachen sie an und fragten: «Du führst ein Leben in Stille und Meditation. Was für einen Sinn soll das haben?»

Nachdem die Einsiedlerin aus dem tiefen Brunnen Wasser geschöpft hatte, forderte sie die beiden auf: «Schaut in den Brunnen und sagt mir, was ihr seht.» Sie blickten hinab und antworteten: «Wir können nichts erkennen.»

Brunnen im Grünen
Bild von Christiane auf Pixabay

Die Eremitin wartete eine Weile, dann fragte sie wiederum: «Was seht ihr jetzt, wenn ihr in den Brunnen schaut?» Die Freunde blickten hinunter und meinten: «Nun können wir uns selbst sehen.» Die Weise sprach: «Nach dem Wasserschöpfen war das Wasser unruhig, jetzt ist es ruhiger. Das ist die Erfahrung der Stille und der Meditation: Du erblickst dich selbst.»

Die Einsiedlerin sinnierte eine Zeit und sagte dann: «Nun schaut noch einmal ganz aufmerksam in den Brunnen. Was seht ihr?» Die Männer schauten hinunter: «Jetzt sehen wir sogar die Steine am Grund des Brunnens.» Und die weise Frau erklärte: «Das ist die Erfahrung der Stille und der Meditation: Wenn du lange genug verweilst, siehst du den Grund der Dinge.»

Wenige Menschen sind für ein kontemplatives Leben als Mönch oder Einsiedlerin bestimmt. Doch es tut gut, uns ab und zu Zeit zu geben, um aus der Geschäftigkeit und dem Gedankenkarussell auszusteigen und mit wohlwollendem Blick einfach wahrzunehmen, was im Moment gerade da ist. Aus der Stille und vermeintlichen Leere bekommen wir manchmal Antworten geschenkt, die uns überraschen und weiterführen.