Die Fremden
«Ihr Name ist Europa. Sie kam über das Meer.»
Diese Sätze leuchten mir am Bahnhof von St. Pölten, Österreich, im Abenddunkel als Neonschrift entgegen. Es handelt sich um eine Kunstinstallation von Borjana Ventzislavova.
Zuerst verstehe ich nicht, was damit ausgesagt werden soll. Ich lese «Europa» und denke an unseren Kontinent mit seiner reichen Geschichte und seinen unterschiedlichen Völkern. Beim Satz «Sie kam über das Meer» hingegen fallen mir die vielen tausend Flüchtenden ein, die auf der Route übers Mittelmeer versuchen, nach Europa zu kommen und oft auf tragische Art und Weise sterben.
Dann erst begreife ich: Die Aussage spielt auf den griechischen Mythos der Entführung der Europa an! Sie ist eine phönizische Königstochter, die von Zeus geraubt und über das Meer nach Kreta gebracht wird. Ihr wird verheissen, dass ein Erdteil nach ihr benannt werden und ihr Name damit weiterleben wird. Phönizien lag im Gebiet, das heute den Norden Israels, Libanon und Syrien umfasst. Europa kam also von Asien übers Meer zu uns.
Fast exakt dasselbe lässt sich nun auch von der «europäischen» Religion, dem Christentum sagen! Es breitete sich von Israel über Kleinasien nach Europa aus. Und in der Person des Apostels Paulus kam auch es im wahrsten Sinne des Wortes über das Meer. Die Apostelgeschichte erzählt, wie Paulus als Gefangener auf einem Schiff nach Rom gebracht werden soll, dabei Schiffbruch erleidet, auf Malta strandet und dann doch noch in die Hauptstadt gelangt (Apostelgeschichte 27 und 28).
Das Kunstwerk von Borjana Ventzislavova erinnert mich daran: Wenn ich mich als Europäer oder Christen bezeichne, schmücke ich mich mit fremden Federn. Vieles, was zu meiner Identität gehört, ist «über das Meer gekommen.»
Abb: Borjana Ventzislavova, Ihr Name ist Europa. Sie kam über das Meer, Bahnhof St. Pölten, Österreich, 2020. Foto: art hoc projects