Die Stimme erheben

Am ersten Vorlesungstag zur Einführung ins Recht kam der Professor herein und fragte einen Studenten in der vorderen Reihe: «Wie heissen Sie?» «Luca Steiner», antwortete dieser. «Nehmen Sie ihre Sachen, Herr Steiner», fuhr der Professor fort, «verlassen Sie sofort den Saal und bleiben meiner Vorlesung fern!» Luca war verwirrt, doch als der Professor drohend auf ihn zu kam, packte er zusammen und ging. Die Mitstudierenden schwiegen bestürzt.

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Der Dozent wandte sich an die Zuhörerschaft: «Fangen wir also an. Wozu dienen die Gesetze?» Er schaute auffordernd in die Runde. Nach und nach kamen einige Antworten: «Damit Ordnung in der Gesellschaft herrscht», «damit Täter nicht ungeschoren davonkommen», … Der Professor wiegte nachdenklich den Kopf. «Damit Gerechtigkeit geschieht», sagte eine Studentin. Der Professor wurde aufmerksam: «Ganz genau: Gerechtigkeit! Aber was ist das?» Die Antworten, die nun kamen, konnten den Professor nicht zufriedenstellen.

Schliesslich fragte er: «Habe ich richtig gehandelt, Herrn Steiner aus der Vorlesung zu werfen?» Alle schwiegen betreten. «Nun sagen sie schon!» Einer traute sich und antwortete «Nein!» und immer mehr stimmten ein. «Dann habe ich also ein Unrecht begangen?» – «Ja!» ertönte es schon viel überzeugter. «Dann frage ich Sie: Warum hat sich niemand gewehrt? Was nützen die Rechte, wenn wir nicht bereit sind uns für sie einzusetzen? Als Zeugen einer Ungerechtigkeit haben wir eine Verpflichtung. Erheben Sie von nun an Ihre Stimme dagegen!» Und der Professor fügte hinzu: «Bitte holen Sie Herrn Steiner wieder herein. Er hat uns geholfen, die wichtigste Lektion heute zu verdeutlichen. Und denken Sie daran: Wenn wir uns nicht für die Rechte einsetzen, dann geht die Würde verloren. Die Würde ist niemals verhandelbar!»