Die Trauer der Witwe im Frühling
Am kommenden Sonntag wird in der reformierten Kirche der Totensonntag begangen. Im Blick darauf heute ein Gedicht des amerikanischen Lyrikers William Carlos Williams (1883 – 1963) über die Trauer einer Witwe.
Es endet hoffnungsarm. Sollte Kirche nicht die Hoffnung des Glaubens vermitteln? Ich finde, dass wir viel zu oft vorschnell und billig Hoffnung herbeireden und dabei Schmerz und Dunkel überspringen. Der Glaube aber nimmt die Trauer ernst und hält sie aus. Er lässt die Hoffnungslosigkeit zu Wort kommen. Daraus dann kann neue Lebensbejahung entspringen.
In diesem Sinne also The Widow’s Lament in Springtime in deutscher Übertragung:
Trauer der Witwe im Frühling
Mein Land ist die Wehmut,
wo frisches Gras leuchtet,
wie es oft
leuchtete, aber nicht
in dem kalten Licht,
das mich dieses Jahr umfängt.
Fünfunddreissig Jahre
war ich mit meinem Mann zusammen.
Heute ist der Zwetschgenbaum
schwer mit weissen Blüten.
Schwer mit Blüten sind auch
die Kirschzweige.
Und Blüten färben Büsche
gelb und rot.
Aber der Schmerz in meinem Herz
wiegt schwerer.
Früher waren sie
mein Glück. Heute sehe ich sie
und wende mich ab.
Heute erzählte mir mein Sohn,
am Ende der Wiesen,
am Waldrand, habe er
Bäume in weisser Blüte
gesehen.
Ich ertappe mich beim Gedanken,
dorthin zu gehen
und mich in diese Blüten sinken zu lassen,
und in den nahen
Sumpf.
Originaltext: Williams, William Carlos, The Widow’s Lament in Springtime, 1921. In: William Carlos Williams, Selected Poems, 39 – 40. London: Penguin Books, 2000.
Foto: Bahnhofkirche Zürich