Die Wahrheit eines wahren Bildes

Einer Legende zufolge hat damals, als Jesus sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte tragen musste, eine Frau namens Veronika Schweiss und Blut von seinem Gesicht abgewischt. In wundersamer Weise blieb auf dem Tuch der Abdruck des Gesichtes Jesu. Die Legende hat sich im 13. Jh herausgebildet. Tatsächlich gibt es verschiedene Tücher, die als „Schweisstuch der Veronika“ verehrt werden. Eines befindet sich im Petersdom in Rom. Immer zur Passionszeit wird es den Glaubenden präsentiert. Nur wenige Menschen konnten es allerdings bisher von Nahem betrachten. Sie berichten, dass auf dem Textil nicht mehr zu sehen ist als einige grössere Flecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Tuch je in Berührung mit Jesus gekommen ist, ist also extrem gering.

Es scheint jedoch ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein, in Kontakt mit etwas „Wahrem“ zu gelangen, das uns mit einer bedeutenden Person oder einem historischen Ereignis verbindet. Auktionspreise für Gegen-stände aus dem Privatbesitz von Prominenten sprechen Bände. Und so nennt man das Schweisstuch trotzdem „Vera Ikon“ (Wahres Bild).

Das hier gezeigte Gemälde von Philippe de Champaigne ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Vera Ikon. Wir sehen das Antlitz Christi, aber Blut und Tränen scheinen aus dem Gesicht über das Tuch zu fliessen und tropfen herab. Das ist alles andere als ein uraltes Textil, das uns mit dem historischen Jesus verbindet. Dieses Gesicht lebt, als ob Jesus gerade jetzt vor uns leiden würde! Es ist, als ob der Künstler uns zeigen wollte: Die Wahrheit des Tuches liegt nicht in ihm selbst, sondern in dem, was zwischen ihm und den Glaubenden geschieht. Das Eigentliche geschieht im betrachtenden Menschen, der bereit ist, in dem  fleckigen Stoff den  leidenden Jesus zu sehen.

Der Glaube braucht keine historischen „Beweise“. Er bewahrheitet sich im praktischen Lebensvollzug. Dann, wenn Gott in meinem Leben glaub-würdig wird.

Abb: Philippe de Champaigne, Das Schweisstuch der Heiligen Veronika, 1645, Kunsthaus Zürich. Quelle: Kunsthaus Zürich