Dieser Körper, in den Gottes Hand hineinlangt
Vorgestern handelte das Weg-Wort vom Psalm 66, der starke Bilder für Leidenserfahrungen bietet, aber auch für die Überwindung des Leids.
Nicht nur damals, zu jeder Zeit hat man nach einer stimmigen Sprache für eigene Erfahrungen gesucht – und für die Gegenwart Gottes darin.
Ein aktuelles, beeindruckendes Beispiel ist das Buch «Republik der Taubheit» des amerikanisch-ukrainischen Autoren Ilya Kaminsky. In lyrischen Kurztexten erzählt es die tragische Geschichte der Besetzung eines fiktiven Ortes durch eine fremde Armee, irgendwo in Osteuropa. 2019 herausgekommen, liest es sich wie eine apokalyptische Vision des derzeitigen russischen Terrors in der Ukraine.
Nach der Erschiessung eines tauben Jungen beschliessen die Einwohner des Ortes, sich gegenüber der fremden Armee taub zu stellen. Und in dieser Verweigerung gegenüber dem Feind werden sie zu «Glücksbeweisen», die über sich selbst nur staunen können:
«Sieh nur, Gott – / Taube haben etwas zu sagen, / was nicht einmal sie selbst hören können.
[…]
Du wirst mich finden, Gott, / wie ein stumpfer Taubenschnabel / picke ich / in jeder Richtung am Erstaunen.»
Auf den Widerstand reagieren die fremden Herrscher mit willkürlichen Hinrichtungen. Und auch für das Entsetzen und die Trauer der Überlebenden findet Kaminsky eindrückliche Worte:
«Ich, dieser Körper, in den Gottes Hand hineinlangt, / mit leerer Brust, stehe.»
Gott wird jetzt nur noch als unverständliche Macht erfahren, die einen zu überwältigen scheint, die in einen «hineinlangt». Aber: Das Ich fällt nicht, es steht!
Dem Autor gelingt es, angesichts von unermesslichem Grauen das Wort «Gott» nicht für billiges Sinn- oder Trostgeschwafel zu missbrauchen. Bei ihm steht es für ein immer rätselhaftes und auch frag-würdiges Du in dieser Welt.
Ilya Kaminsky, Republik der Freiheit, Hanser Verlag, München, 2022
Abb: Ilya Kaminsky an einer Lesung in San Diego, 2011. Foto: Patty Mooney. Wikimedia Commons