Du I
Dein Ort ist/ wo Augen dich ansehn./ Wo sich die Augen treffen/ entstehst du.
Von einem Ruf gehalten,/ immer die gleiche Stimme,/ es scheint nur eine zu geben/ mit der alle rufen.
Du fielest,/ aber du fällst nicht./ Augen fangen dich auf.
Es gibt dich/ weil Augen dich wollen,/ dich ansehen und sagen/ dass es dich gibt.
Dieses Gedicht von Hilde Domin mit dem Titel «Es gibt dich» hat eine tiefgreifende Erfahrung zum Thema: Das Gesehenwerden, das Wahrgenommenwerden. Es beschreibt, wie wir Menschen erst entstehen, wie wir im Leben erst wirklich «ankommen», wenn wir von einem Gegenüber, also von anderen Augen angesehen werden und wenn jemand anderes «du» zu uns sagt, uns ruft und in eine Beziehung mit uns tritt. Wer Einsamkeit erlebt und wer erfahren hat, wie zutiefst wertlos man sich darin fühlen kann, bis zu dem Punkt, wo man gar nicht mehr leben mag, der/die weiss, wie wahr diese Worte sind. Und damit auch diese: «Du fielest, aber du fällst nicht. Augen fangen dich auf.»
Eine Person, die ich kenne, war beruflich völlig überlastet und stand nahe an einem Burnout. In ihrer Not suchte sie professionelle Hilfe auf. Es war dann eine ungeheure Befreiung, endlich von jemandem in der Überforderung ernst genommen, also «gesehen» zu werden. Die ganze aufgestaute Verzweiflung, die sie unter dem Arbeitsdruck verdrängt hatte, brach jetzt auf. Das war schmerzhaft, gleichzeitig eine wirkliche Erlösung.
In Hilde Domins Gedicht lesen wir auch, dass es «immer die gleiche Stimme» sei, mit der wir gerufen werden und bei der wir Halt finden – auch wenn es verschiedene Menschen sind, die da rufen.
Wie ist das gemeint? Was für eine Stimme ist das? Dazu mehr in einem Weg-Wort nächste Woche!
Abb: Jacopo da Pontormo, Heimsuchung, 1528/29, Kirche San Michele e San Francesco, Carmignano, Italien. Wikimedia Commons