Durch alle Dinge geht ein Riss

Seit wir im Englischunterricht am Gymnasium den kryptischen Text seines Liedes «Suzanne» zu enträtseln versuchten, fühle ich mich dem Sänger und Songwriter Leonard Cohen verbunden. Weniger als Namensvetter, denn als tiefbohrender, tiefsinniger Literat und Gottsucher. Diese Suche führte ihn während 4 Jahren auch in ein Zen-Kloster nahe Los Angeles. Trotz dieses Abstechers in die buddhistische Spiritualität blieb Cohen seiner jüdischen Tradition und Religion im Innersten verbunden.   

So etwa entstammt die vielzitierte Pointe aus dem späten Song «Anthem» der Kabbala, dem Hauptwerk jüdischer Mystik: „There is a crack in everything.“ Ins Deutsche übersetzt: Durch alle Dinge geht ein Riss.

Für alle diese Risse, Brüche und Brechungen, die die Welt so schicksalsmächtig durchziehen, braucht die Kabbala die Metapher eines zerbrochenen Gefässes. Inmitten dieser Bruchstückwelt werden auch Sinn und Gott als fern oder abwesend empfunden. An dieser Stelle aber erhebt Cohen mit einem starken Gegenbild Einspruch. Er meint, es seien eben gerade die Risse, die Spalte, die Bruchstellen, eben die «cracks» in allen Dingen, durch die das Licht überhaupt erst einfallen könne. „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“

In unserem täglichen Leben kann Cohens Diktum dazu anregen, die eigenen und auch die fremden Risse anzunehmen, sie nicht als Schwächen, sondern als Quellen der Stärke und einer tieferen Erkenntnis zu sehen. Denn immer wieder sind es die Widerstände und Widrigkeiten des Daseins, die es uns ermöglichen, zu wachsen, zu lernen und zu tieferen Einsichten vorzudringen.

In einer Zeit, in der die dunklen Kräfte machtvoll über die hellen zu triumphieren scheinen, schenkt Leonard Cohens Lichtbotschaft der angefochtenen Seele jedenfalls etwas Trost und Hoffnung.

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