Ehrliche Fahnen
Vor einiger Zeit besuchte ich ein Museum über die Geschichte der Sklaverei. Unter anderem wurden dort Kunstwerke zum Thema «Sklaverei und Kolonialismus» gezeigt. Ein Künstler hatte die Nationalflagge Grossbritanniens zum Ausgangspunkt genommen. Er hatte das Grundmuster übernommen, es jedoch mit den Farben und Motiven der Fahnen von 11 karibischen Inselstaaten versehen, die früher britische Kolonien gewesen waren. Es ging ihm darum, an den Beitrag der ehemaligen Schwarzen Untertanen zum heutigen Grossbritannien zu erinnern: Sie hatten z.B. im Zweiten Weltkrieg für das Königreich gekämpft und übernehmen bis heute viele der schlecht bezahlten Arbeiten.
Fahnen sind identitätsstiftende Symbole. Sie sind Zeichen für Zusammengehörigkeit. Gleichzeitig, das zeigt dieses Werk, sind sie hoch ideologisch. Sie bilden nicht einfach die Wirklichkeit ab, sondern idealisieren sie. Oft tun sie dies, indem unangenehme Aspekte ausgeblendet werden. Die Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei, die so sehr zu Grossbritannien gehört, kommt in der Nationalfahne nicht vor.
Ich frage mich: Wie würde eigentlich die Schweizerfahne aussehen, wenn sie die verschwiegenen Aspekte unserer Geschichte aufnehmen würde? Wie wäre z.B. das Schicksal der Verdingkinder darstellbar? Oder das der vielen Arbeitsmigrant:innen, ohne die unser Land nicht dasselbe wäre?
Und ich frage mich: Was hat mich geprägt und ist doch nicht sichtbar, wenn man es mit mir zu tun hat? Welche Menschen und Geschichten gehören zu mir, werden aber verschämt von mir verschwiegen? Auch Menschen zeigen ein Bild von sich, das nicht der ganzen Wirklichkeit entspricht.
Es kann befreiend sein, sich jemandem auch mit den ausgeblendeten Aspekten seiner selbst zu offenbaren. Meist merkt man: Man ist nicht allein. Es geht dem Gegenüber ebenso.
Abb: Britische Prominente schwarzafrikanischer Herkunft. Quelle: Wikimedia Commons