Ein Dornstrauch will König sein

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Das älteste Gleichnis der Bibel finden wir im Buch der Richter (9, 7-15). Obwohl es aus einer anderen Zeit stammt, spricht es mit erstaunlicher Klarheit in unsere Gegenwart. Der junge Jotam, der letzte überlebende Sohn Gideons, erzählte den Bürgern von Sichem eine Fabel. Sie hat folgenden Inhalt: Die Bäume wollen einen König bestimmen. Sie fragen nacheinander den Ölbaum, den Feigenbaum und den Weinstock, ob sie König sein möchten. Doch alle lehnen ab. In Ermangelung an geeigneten Kandidaten wenden sie sich an den Dornstrauch. Sie können es sich denken: der will natürlich die Rolle übernehmen, bietet seinen Schatten an und droht zugleich mit Feuer. Das Gleichnis zeigt, dass die würdigen Bäume nicht herrschen wollen. Sie dienen der Gemeinschaft allein durch ihre Frucht. Der Dornstrauch, nutzlos und gefährlich, ist hingegen machtversessen. Jotams Gleichnis ist eine scharfe Kritik, die seine Zuhörer trifft. Denn diese hatten Abimelech, seinen mörderischen Halbbruder, zum König gemacht. Nicht weil Abimelech geeignet, oder weil seine Wahl gerecht gewesen wäre. Nein, es war aus purem Eigennutz. Jotam sagt voraus, dass das Reich im Feuer enden wird. Genau das geschieht später auch.

Auf erschreckende Weise scheinen sich solche Ereignisse durch die Menschheitsgeschichte zu ziehen. Wie oft werden – damals wie heute – nicht die Fähigsten, sondern die Lautesten zum Anführer gewählt? Wie oft folgen wir denen, die versprechen, «Schatten» zu spenden, obwohl sie in Wahrheit wie Dornen Wunden zufügen? Dieses uralte biblische Gleichnis ist voller Weisheit. Denn es ruft uns auf zur Unterscheidung: Welcher «Baum» verdient Vertrauen? Wer dient seinem Volk wirklich und wer herrscht bloss? In Zeiten weltweiter Krisen, Polarisierung und exzentrischer Machthaber bleibt Jotams Stimme erschreckend aktuell. Lasst euch nicht täuschen vom Schatten, den die Dornen versprechen. Es sind nicht sie, sondern die fruchtbaren Bäume, die Leben bringen.