Ein Wunder oder so
Er sei so etwas wie ein Schamane, sagte man mir. Jedenfalls sei er sehr weise, und viele Menschen gingen zu ihm, um Rat zu holen. Also ging ich auch. Er lebte an einem See hoch in den Bergen. Der See war gefroren. Ich fand ihn in einer Holzhütte. Er sass mir gegenüber und sagte nichts.
«Ich weiss auch nicht so genau, was ich von Ihnen will» begann ich. «Ich glaube, ich möchte einfach mal etwas wirklich Aussergewöhnliches erleben. Etwas Spirituelles. Ein Wunder oder so.»
Er schwieg. «Verstehen Sie, was ich meine?» fragte ich verunsichert. Er schwieg. «Man hat mir gesagt, Sie seien weise und spirituell…deshalb bin ich gekommen.»
«Nimm das» sagte er und drückte mir ein Teelicht in die Hand «geh zum See, mach drei Schritte auf das Eis hinaus, zünde es an und stelle es aufs Eis. Dann geh einmal um den See herum und komm wieder.»
«Aber das ist doch gefährlich! Zudem ist es jetzt dunkel, da draussen» entgegnete ich. Der Alte schwieg.
Es war mir schon nicht wohl, so auf das Eis hinauszugehen. Aber es hielt. Ich staunte, wie klein die Flamme des Kerzleins war, in dieser immensen Dunkelheit.
Dann machte ich mich auf den Weg. Verdammte Kälte!
Am andern Ende des Sees kam ich auf eine Lichtung. Wie dunkel es hier war! Aber da… Was war das, da hinten? In der Ferne sah ich ein Licht. Einen einzigen Lichtpunkt, hell und klar. Das konnte nur… Nein! Doch. Das war mein Teelicht. Dort drüben hatte ich es doch platziert. Das musste jetzt mehr als ein Kilometer entfernt sein. Und ich sah es so deutlich!
Auf dem ganzen Weg zurück sah ich es vor mir. Weit weg, und doch irgendwie ganz nah.
«Danke, dass Sie mir ein Wunder geschenkt haben» sagte ich, als ich zurück war. Er schwieg. Aber ich glaube, er lächelte.
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