Entscheidungsmüdigkeit
Was ziehe ich heute an? Wohin reisen wir im Sommer? Bleibe ich der Ampel stehen, die gerade umspringt, oder fahre ich noch drüber? Rufe ich heute Abend wie versprochen meine Schwester an? Jeden Tag, so haben Neurowissenschaftler ermittelt, treffen Menschen zwischen 20`000 und 35`000 Entscheidungen, also alle paar Sekunden eine. Die meisten laufen automatisiert und blitzschnell ab, andere benötigen Zeit und werden sorgfältig abgewogen. Manche Entscheidung wird sofort gefällt, andere werden vertagt. Jede Entscheidung, die ein Mensch trifft, kostet Energie. Um keine mentale Kraft zu verschenken, greifen manche zu kleinen Tricks wie Routinen und feste Abläufe. So weiss man beispielsweise vom verstorbenen Apple-Gründer Steve Jobs, dass er immer nur im schwarzen Rollkragenpullover und in Jeans gekleidet war. Und vom ehemaligen US-Präsident Barack Obama sagt man, er habe während seiner Amtszeit nur graue und blaue Anzüge getragen. Weil er als Präsident den ganzen Tag weitreichende Entscheidungen treffen musste, wollte er es morgens vor dem Kleiderschrank unkompliziert haben.
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, dass Sie nach einem langen, anstrengenden Tag nichts mehr beschliessen wollen oder können. Das kann die banalsten Alltagsentscheidungen betreffen: Was soll es zum Abendessen geben? Welchen Film möchte ich sehen? Keine Ahnung! Dafür gibt es einen Fachbegriff: decision fatigue (Entscheidungsmüdigkeit). Es macht müde, wenn man den ganzen Tag mit unzähligen Optionen jonglieren muss. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass es sich eigentlich um ein Privileg handelt, dass wir überhaupt Entscheidungen treffen können, halte ich es für legitim, sich der Entscheidungsmüdigkeit hinzugeben, wenn sie einen einholt. Denn sie ist ein deutliches Signal, dass es mal wieder an der Zeit ist, etwas langsamer zu treten. Oder wie es in einem Gebet aus Südafrika heisst: «Lass mich langsamer gehen, Herr, entlaste das eilige Schlagen meines Herzens durch das Stillwerden meiner Seele.»