Enttäuscht euch!
Bei der Vorbereitung von Trauungen habe ich Paare manchmal gebeten, je für sich die Geschichte ihrer Beziehung bildlich darzustellen. Dabei sollten sie auch versuchen, sich die gemeinsame Zukunft „auszumalen“.
Es war dann immer spannend, beim Traugespräch zu sehen, wie ähnlich oder auch unterschiedlich die gemeinsame Geschichte und die Vorstellungen für die Zukunft dargestellt wurden. Daraus ergaben sich gute Gespräche über die Wahrnehmung der Beziehung und die Erwartungen an die Ehe.
Manchmal fragte ich die Paare auch, wo sie Stolpersteine, also mögliche Probleme für ihr weiteres Zusammenleben sehen würden, auf die es besonders zu achten gelte.
Einen Mann traf ich einige Jahre nach der Trauung zufällig wieder und er sagte mir, jetzt verstehe er, weshalb ich diese Frage gestellt hätte. Damals habe er sie unpassend gefunden, weil er gar nicht offen dafür gewesen sei, etwas Störendes wahrzunehmen. Mittlerweile, wo zwei Kinder da seien und das Leben sich sehr verändert habe, gebe es Seiten an seiner Frau, die er schon schwierig finde.
Es gehört zur Entwicklung wohl jeder Liebesbeziehung, dass man sich gegenseitig enttäuscht. Das meine ich im Wortsinn: In der Liebe neigt man dazu, das Gegenüber oder die gemeinsame Beziehung zu idealisieren. Man projiziert Dinge in die andere Person, die mit tiefliegenden eigenen Sehnsüchten zu tun haben, aber nur bedingt mit dem konkreten Gegenüber. Man täuscht sich eben. Deshalb ist es gut, dass man sich irgendwann ent-täuscht und erkennt, wer der andere Mensch wirklich ist. Liebe heisst ja nicht, einem Trugbild aufzusitzen, sondern sich auf eben diesen Menschen einzulassen. Und ja, dazu kann auch gehören, dass die Unterschiede zu gross sind und es keine gemeinsame Zukunft gibt. Auch das kann Liebe sein: Einen Menschen in seiner Andersartigkeit so zu respektieren, dass man ihn gehen lässt.
Abb: Mann und Frau küssend von Vectorportal.com.
https://vectorportal.com/de/vector/mann-und-frau-k%C3%BCssen/16143