ER west

Im 28. Kapitel des biblischen Buches Genesis wird von einem Traum des Jakob erzählt: Eine Treppe steht zwischen Erde und Himmel. Darauf steigen Engel hinab und hinauf. Dann steht Gott vor Jakob und verheisst ihm, dass aus seiner Nachkommenschaft ein grosses Volk werden wird, das dort, wo er jetzt schläft,  seine Heimat haben wird. Die Begegnung endet mit dem Versprechen Gottes, ihn zu behüten und zu begleiten. Jakob erwacht, und was er dann sagt, zitiere ich aus der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig:

«Jaakob erwachte aus seinem Schlaf und sprach: So denn, ER west an diesem Ort, und ich, ich wusste es nicht! Er erschauerte und sprach: Wie schauerlich ist dieser Ort! dies ist kein andres als ein Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels.»

Diese Übersetzung fasziniert, weil sie konsequent versucht, die Eigenheit der hebräischen Ursprungssprache beizubehalten und «nicht das Fremde einzudeutschen, sondern das Deutsche umzufremden», wie Rosenzweig es einmal formuliert hat.

Wie eindrücklich das hier gelungen ist! Den Namen Gottes auszusprechen, wird  vermieden, indem von «ER» gesprochen wird. (Ob die beiden Philosophen heute noch die männliche Form wählen würden?)  ER aber «ist» nicht einfach an diesem Ort, sondern er «west». Gottes Wesen ist also nichts Statisches, das irgendwo ruht, sondern es ereignet sich, es west!
Und dieses wesende Wesen lässt einen erschauern – trotz des Zuspruchs, den es verkündet. Das Fremde, das so ganz Andere Gottes überwältigt Jakob.

Tatsächlich: Immer wieder überwältigt es Menschen, wenn sie vom Unerklärlichen bewegt werden und darin Gott erahnen können. Mir ist es manchmal so ergangen, wenn ich als Spitalseelsorger bei sterbenden Menschen war. Etwas unglaublich Friedliches kann in den letzten Stunden eines Lebens liegen, und gleichzeitig kann man auch erschauern, wenn ein Mensch seinen allerletzten Atemzug tut. Für mich gab es dabei oft die Ahnung, dass ER – der ganz Andere und Unerklärliche – west.

Abb: Himmelsleiter, Billi Thanner, Installationsansicht (Detail), Kirche Sankt Lamberti, Münster (Westf.), 2022/23.  Foto: Gerda Arendt, 2022. Wikimedia Commons