Es gibt nichts zu verstehen

»Wir wollen immer etwas verstehen. Aber es gibt nichts zu verstehen. Alles, was Sie hier im Atelier erfahren können, birgt nur ein Versprechen: erlebt zu werden.»

Der Bildhauer Constantin Brancusi schuf Werke von reiner, berückender Eleganz und Schönheit. Er gilt als Vater der modernen Skulptur, die sich durch Abstraktion und Reduktion auszeichnet.

Brancusi hat sich dagegen verwehrt, dass man in seinen Werken Geheimnisse oder Bedeutung sucht. Sie stehen für sich. Sie wollen nichts als erlebt werden. Er sagt: «Vertiefen Sie sich in meine Werke bis Sie beginnen, sie zu sehen.»

Eine bemerkenswerte Aussage, da wir Skulpturen ja vor allem visuell wahrnehmen, also sehend. Aber dem Künstler geht es um etwas anderes als einfach nur angucken. Man soll sich auf seine Werke in ihrer Tiefe einlassen, sie nicht nur analysieren, sondern erleben. Ihm geht es um das, was jenseits der äusseren Gestalt liegt, um das Wesen der Dinge. Vom Motiv des Vogels z.B., mit dem er sich intensiv auseinandergesetzt hat, bleibt am Schluss noch eine elegant geschwungene, in die Höhe strebende abstrakte Figur. Sie stellt keinen Vogel dar, sondern vermittelt eine Ahnung der Leichtigkeit und der Bewegung beim Fliegen. Sie lässt mich die Qualität dessen erleben, was ein Vogel ist.

Brancusis Verständnis erinnert an die Haltung mystischer Lehrer. Dem oben zitierten Satz über das Sehen seiner Werke lässt er einen weiteren folgen: «Die, die Gott nahe sind, haben sie (die Werke) gesehen.»

Sich einlassen können, etwas im Hier und Jetzt ganz und gar erleben – wenn das gelingt, kommt man dem Geheimnis des Lebens nahe. Das ist die Verheissung der Mystik – und der Skulpturen Brancusis.

Abb: Constantin Brancusi, The Endless Column, 1938, Târgu Jiu, Rumänien. Foto: byrev, 2013. Quelle: pixabay