Es ist eine Fremdheit in der Welt
Die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel (Buch Genesis, Kapitel 11, 1 – 9) erzählt, wie die Bewohner:innen der Erde sich zusammentun, um eine Stadt zu bauen und einen riesigen Turm zu errichten, der bis in den Himmel reicht. Gott erkennt darin ein Streben der Menschen nach unbegrenzter Macht. Deshalb verwirrt Gott ihre Sprache, sodass sie einander nicht mehr verstehen und das Projekt scheitert. In der Folge wird die Menschheit über die ganze Erde zerstreut und lebt in verschiedenen Völkern. Eine Fremdheit schleicht sich in die Welt.
Die Geschichte wird meist als Warnung vor menschlicher Überheblichkeit und Auflehnung gegenüber Gott verstanden. Darum sei es gut, dass wir Menschen in eine Vielzahl von Völkern aufgesplittert sind.
Deutlich seltener wird darauf hingewiesen, dass die Erzählung gleichzeitig von einem universellen Ursprung der Menschheit ausgeht, der eigentlich der gottgewollte Zustand wäre. Sie beginnt mit dem Satz: «Alle Bewohner der Erde aber hatten eine Sprache und ein und dieselben Worte.»

Die Apostelgeschichte im Neuen Testament berichtet, dass die Jünger Jesu in Jerusalem an Pfingsten vom göttlichen Geist ergriffen werden und plötzlich in den unterschiedlichsten Sprachen sprechen. Und die Menschen, die aus ganz verschiedenen Ländern in die Heilige Stadt gekommen sind, hören sie in ihrer Muttersprache reden. Das ist bedeutsam: Die Unterschiede werden nicht aufgehoben. Es geht nicht zurück zur Einheitssprache. Aber das Trennende wird überwunden. Die Jünger integrieren das Fremde, indem sie nicht mehr nur in ihrer Sprache sprechen, sondern sich für andere verständlich machen können.
Vom göttlichen Geist ergriffen zu sein, könnte also heissen, im Gegenüber eher den gemeinsamen menschlichen Ursprung zu sehen, als sich durch seine / ihre Fremdheit befremden zu lassen.
Abb: Lucas van Valckenborch, Der Turm zu Babel, 1594, Musée du Louvre, Paris. Quelle: Wikimedia Commons