Ganz

Kennen Sie diese Irritation auch, wenn Sie ihre eigene Stimme als Tonaufnahme hören? Dass Sie denken: Ach so klingt es also, wenn ich rede! Oder Sie erkennen sich auf einem Foto und staunen über Ihr Aussehen. Denn wenn Sie in den Spiegel blicken, wirken Sie ganz anders.

Das ist nicht weiter erstaunlich, denn im Spiegel sehen wir uns ja immer seitenverkehrt: Unsere rechte Gesichtshälfte ist die linke und umgekehrt. Und die Laute unserer Stimme, die beim Reden von innen her zu unserem Trommelfell gelangen, haben eine andere Frequenz, als wenn die Schallwellen durch die Luft übertragen werden und von aussen an die Ohren unserer Zuhörer:innen gelangen.

Die Wahrnehmung, die wir von uns haben, unterscheidet sich von der der andern. Und das betrifft nicht nur äussere Erscheinungsformen. Unser Selbstbild als Person ist genährt von unseren Erfahrungen, von Prägungen durch wichtige Menschen, von ausgesprochenen oder unausgesprochenen Regeln, die in unserem Umfeld galten. Das alles nehmen die andern nicht oder nur teilweise wahr. Ihr Aussenblick auf uns kann sich deshalb stark von unserem Selbstbild unterscheiden.

„Jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin.“

So schreibt der Apostel Paulus im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes.
Er lebt in der Hoffnung auf einen Zustand, in dem das Verzerrte und Beschränkte unserer Wahrnehmung überwunden sein wird. Und etwas davon ist für ihn bereits eingelöst. Schon jetzt ist er „ganz erkannt worden“. Natürlich spricht er hier nicht von Menschen, sondern von Gott. Dieser Glaube kann mein Selbstverständnis tatsächlich gehörig verändern: Dass ich in allem Verkannt-Werden, in allem Missverstanden-Werden durch mich oder Mitmenschen zumindest von Gott ganz gesehen, ganz gehört, ganz verstanden werde.

Foto: Min An, https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-mit-blick-auf-kosmetikspiegel-1547970/