Gelassen werden

Manchmal sprechen wir von einer mystischen Erfahrung, wenn ein Moment uns tief berührt und etwas Grösseres durchscheinen lässt, sei es durch ein Naturphänomen, bei einer Geburt oder einem soziales Ereignis. Dieser Sprachgebrauch kann darauf hinweisen, worum es Mystikerinnen und Mystikern im Christentum und in anderen Religionen geht: Sie waren und sind überzeugt, dass ein unmittelbarer Zugang zur göttlichen Wirklichkeit möglich ist, auch wenn diese für uns unbegreifbar und unaussprechbar bleibt.

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Im Heiligenkalender finden wir heute einen Mystiker. Heinrich Seuse lebte in den ersten beiden Dritteln des 14. Jahrhunderts, in einer von Nahrungsmangel und wiederkehrenden Pestepidemien geprägten Krisenzeit. Suso, wie er auch genannt wird, trat früh in den Dominikanerorden ein und wirkte vor allem in Süddeutschland sowie in der Schweiz als Seelsorger, Prediger und geistlicher Schriftsteller. Ein Wendepunkt in seinem Leben war die Einsicht, dass er Gott nicht durch Nachahmung der Leiden Jesu mittels Kasteiungen näher kommt, sondern durch vertrauensvolle Gelassenheit gegenüber den äusseren Umständen und Anfeindungen. Die Haltung beschrieb er einmal so: «Ein gelassener Mensch soll nicht allzeit darauf schauen, wessen er bedürfe; er soll vielmehr darauf schauen, was er entbehren kann.»

In der Mystik lebt die Überzeugung, dass das Verbindende und Einigende eine grössere und tiefere Realität besitzt als alles Trennende und Abgrenzende, das wir im Diesseits erfahren. Personen mit einem mystischen Blick entdecken hinter der Vielheit die Einheit, würdigen diese und setzen sich für sie ein. In einer Welt der Spaltung ist diese Einstellung wahrhaft heilsam. Und sie kommt nicht ohne eine grosse Portion zuversichtlicher Gelassenheit aus.