Gewissensprüfung

In den Achtzigerjahren wurde Militärdienstverweigerung noch mit Gefängnis bestraft. Ich entschied mich für den Militärdienst ohne Waffe und reichte ein entsprechendes Gesuch ein. Es wurde von den Aushebungsoffizieren ohne langes Hinterfragen bewilligt. So habe ich die Rekrutenschule und ein paar Wiederholungskurse als waffenloser Spitalsoldat absolviert.

Ausschnitt aus meinem militärischen Dienstbüchlein

Als in den Neunzigerjahren die Gefängnisstrafe durch einen Ersatzdienst ersetzt wurde, wollte ich meine Zeit sinnvoller für die Gesellschaft einsetzen und verweigerte den Militärdienst. Trotzdem musste ich noch vor Gericht erscheinen. Dort stand ich sieben Juristen in Uniform gegenüber. Einer fragte, ob ich nicht eine Waffe in die Hand nehmen würde, wenn der Russe käme und meine Frau vergewaltigen wollte. Ich fand diese Frage vollkommen abwegig und überholt. Der kalte Krieg war vorbei. Ich fühlte mich von anderen Dingen als von den Russen bedroht.

Durch den Krieg, den Russland jetzt gegen die Ukraine führt, und die Ereignisse von Butscha und Irpin ist die Frage, die mir der Richter damals gestellt hatte, nicht mehr einfach eine Hypothese. Im Rückblick erscheint mir mein früherer Pazifismus naiv. Heute würde mir mein Gewissen auftragen, Militärdienst zu leisten.
Meine Haltung zum Militär und zum Dienst mit der Waffe hat sich im Verlauf meines Lebens geändert. Mein Gewissen erweist sich als nicht statisch. Es verarbeitet neue Erfahrungen laufend in meinen Entscheidungsprozess mit ein und es lässt auch widersprüchliche Ansichten nebeneinander stehen. Es warnt mich vor Gewaltanwendung, aber es meldet sich auch, wenn ich Gewalt zu meinem Schutz einfach an andere delegiere.