Gnade, konkret
1977 wurde der Arbeitgeberpräsident der Bundesrepublik Deutschland, Hanns Martin Schleyer, von Linksterroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt. Diese forderten die Freilassung ihrer Mitkämpfer:innen aus dem Gefängnis. Die Situation eskalierte, als zusätzlich ein deutsches Flugzeug entführt wurde. Diese Geiseln konnten befreit werden, die Terrorist:innen im Gefängnis begingen Suizid – und Schleyer wurde von seinen Entführer:innen ermordet.
Man kann sich kaum vorstellen, wie sehr seine Angehörigen in diesen Tagen gelitten haben müssen. Sein ältester Sohn, der Jurist Hanns-Eberhard Schleyer, gelangte an das Bundesverfassungsgericht, um die Regierung zu zwingen, auf die Forderungen der Terroristen einzugehen und so das Leben seines Vaters zu retten. Er scheiterte.
Wenige Jahre später war Schleyer Chef der Staatskanzlei des Bundeslandes Rheinland-Pfalz. In dieser Funktion musste er die ersten Begnadigungsgesuche von inhaftierten RAF-Terrorist:innen beurteilen. Er unterstützte diese Gesuche. Seine Begründung ist bemerkenswert:
«Es muss Gnadenentscheidungen auch im Falle von terroristischen Gewalttaten geben. Gnade ist (…) ein unverzichtbarer Bestandteil auch unseres Rechtsstaates.» Und: «Der Staat, der das Leben von Bürgern in den Mittelpunkt seiner Entscheidungen stellt, das ist der Staat, der lebenswert ist.»

Es ist beeindruckend, wie Schleyer nicht aus persönlicher Betroffenheit urteilt, sondern mit dem Blick auf das Ganze der Gesellschaft. Gnade und Menschlichkeit müssen für alle gelten, sonst gelten sie letztlich für niemanden.
Dass wir zu Vergebung und Gnade bereit sein sollen, ist eine urchristliche Haltung. Wir brauchen Menschen, die öffentlich dafür einstehen. Menschen wie Hanns-Eberhard Schleyer.
Abb: Kranzniederlegung 40. Jahrestag Attentat auf Hanns Martin Schleyer am Tatort, 2017 Foto: Raimond Spekking. Quelle: Wikipedia