Gott – nichtbinär

Zurzeit lese ich den vielfach ausgezeichneten Roman „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon. De l’Horizon ist eine nichtbinäre Person. D.h., sie nimmt sich nicht eindeutig als Mann oder Frau wahr, sondern ihre Geschlechtsidentität bewegt sich zwischen diesen Polen. Um Herkunft, Prägung und die Auseinandersetzung mit dieser Identität geht es im „Blutbuch“. Beim Lesen merke ich, wie sehr ich durch das Denken in Gegensätzen, durch Polaritäten geprägt bin: Subjekt und Objekt, Ich und Du, Mann und Frau… Eigentlich empfinde ich solche Gegensätze als Bereicherung, weil mich etwas, das anders ist, anregt und weiterbringt. Und jetzt ist plötzlich mein Denken in Polaritäten selbst das eine, das durch ein andere Sichtweise herausgefordert wird. Das ist spannend!

Anregend ist es z.B., mein Nachdenken über den Glauben durch Kim de l’Horizon infrage stellen zu lassen – v.a. auch mein Gottesbild.

Im Ersten Buch Mose lese ich, dass Gott den Menschen nach seinem Bild schafft, und dann: „…als Mann und Frau schuf er sie“ (1. Mos 1, 27). Bisher habe ich das so verstanden, dass Frau wie Mann gleichwertig Bild Gottes ist. Das ist eine binäre Sichtweise. Kann ich es auch so verstehen: Gott ist nicht eindeutig Mann oder Frau, sondern beides? Abbild Gottes zu sein, heisst nicht einfach, das eine oder andere zu sein, sondern dass es so viele verschiedene Spielmöglichkeiten geschlechtlicher Identität gibt, wie es Menschen gibt? Im Text seht ja auch nicht „als Mann ODER Frau schuf er sie“, sondern „als Mann UND Frau“. Könnte das bedeuten: Jeder Mensch verfügt über Anteile der beiden Pole und ist ein einzigartiger Mix daraus?

Dass Gottes Gedanken anders sind als unsere Gedanken – und wir mit unserem Denken immer an Grenzen stossen, ist eine alte biblische Weisheit. Gerne erwarte ich also mehr vom Leben, als was ich im Moment gerade so darüber denken kann.

Abb: Kim de l’Horizon. Foto: Harald Krichel, 2022. Wikipedia. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Kim_de_Horizon-62420.jpg