Haben Sie Geduld…

Immer wieder suchen Menschen uns Seelsorgende in der Bahnhofkirche auf, deren Leben aus allen Fugen und Bezügen geraten ist. Ein Leben im freien Fall. Nichts, das trägt, nichts, was hält. Pures, nacktes Elend. Vielen fehlt es an allem, manchmal sogar an einem Dach über dem Kopf oder an Geld für einen warmen Kaffee. Misery pur, und dies mitten in einer Stadt des immer Reicher, immer Schöner, immer Mehr. Dem Auge der Gesellschaft sind diese Menschen längst entschwunden. Wer ganz unten gelandet ist, leidet in aller Regel multiple. Da kommt eines zum andern. Zur sozialen gesellen sich andere Nöte: pekuniäre, familiäre, Knatsch mit den Behörden, Alkohol-, Drogen- und damit verbunden immer auch Beziehungsprobleme, physisches und vor allem psychisches Leiden. 

Neulich kam eine Frau zu mir, die sich selbst als Trümmerhaufen bezeichnete. Ihre bis in die frühe Kindheit zurückreichende Leidensgeschichte eine schreiende Tragödie. Was tun, was sagen, was lassen, wenn Menschen mit zerfetztem Seelengewand bei uns Hilfe suchen?

Mir kommen nebst dem Gebet oder der Lesung eines Klagepsalms zwei Grundhaltungen zu Hilfe. Zum einen ein uraltes Ärztegelöbnis, das da lautet: «Manchmal heilen, öfters lindern, immer aber trösten». Und zum andern eine Stelle aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an eine in seelischem Schmerz versinkende Freundin. Ihr schreibt er: „Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben… Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein… – aber nehmen Sie das, was kommt, in großem Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem Willen kommt, aus irgendeiner Not Ihres Innern, so nehmen Sie es auf sich und hassen Sie nichts.“

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