Halbe Sachen
Ein Pfarrkollege hat mir vor Jahren von einer Konfirmandin erzählt, die ihm die Augen geöffnet habe. Er hatte sich über die Jugendliche x-mal geärgert. Regelmässig sei sie zu spät in den Unterricht gekommen, der doch eigentlich günstig anschliessend an die Mittagspause gelegt worden sei. Immer wieder habe sie ihre Sachen nicht dabeigehabt: Das Schreibzeug, das Arbeitspapier oder sonst was.
Erst beim Konfirmandinnenbesuch bei ihr zuhause habe er verstanden. Er habe einen unglaublich chaotischen Haushalt angetroffen, in dem eine von ihrem Mann getrennte, alkoholkranke Mutter mit drei Kindern gelebt habe. Und während die Mutter ziemlich teilnahmslos am Tisch gesessen sei, habe seine Konfirmandin – das älteste der Kinder – für Kaffee und Gebäck gesorgt und das Gespräch geführt.
Darin sei deutlich geworden, dass die Tochter neben Schule und kirchlichem Unterricht mehr oder weniger die Verantwortung für die Familie trage, schaue, dass am Mittag etwas auf den Tisch komme und danach abgeräumt werde. «Darum kommst du so oft zu spät in den Unterricht?» «Ja, manchmal langt es einfach nicht ganz.»
Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.
Die dritte Strophe des Liedes «Der Mond ist aufgegangen» von Matthias Claudius erinnert auf schlichte, aber tiefgründige Weise daran, dass uns manchmal die Augen geöffnet werden müssen – für das, was wir nicht sehen.
Foto: Hans Middendorp, Niederlande, 2020. Quelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/dammerung-himmel-sonnenuntergang-wolken-6788467/