Hunger
«Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts anderes mehr denken kann. Der Gaumen ist höher als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel.»
Die meisten, die dieses Weg-Wort lesen, werden noch nie richtig Hunger gelitten haben. Denn Krieg, Flucht oder Dürre haben die wenigsten der Durchschnitts-Weg-Wort-Leser:innen selbst erlebt. So zumindest vermute ich es.
Aber für grosse Teile der Menschheit ist Hunger Realität. Die UNICEF informiert, dass 2021 828 Mio. Menschen an Hunger gelitten haben. Das sind ungefähr 10% der Weltbevölkerung.
Ich lebe in der wohlhabenden Schweiz und habe einen guten Lohn. Ich kenne den Hunger nicht. Umso mehr beeindruckt mich die Schilderung der deutschen Autorin Herta Müller, die die Erfahrung des Hungerns im Roman «Atemschaukel» drastisch in Worte fasst. In dem Buch geht es um einen rumäniendeutschen Mann, der am Ende des 2. Weltkrieges von der sowjetischen Besatzungsmacht ins Arbeitslager verschleppt wird. Dort lernt er den Hunger kennen. Müller beschreibt das – neben dem Abschnitt oben – unter anderem so:
«Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. […] Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.»
Diese starken, überaus sinnlichen Worte vermitteln mir eine Ahnung, wie es den Millionen Menschen gehen mag, die Hunger leiden.
Abb: Herta Müller, Atemschaukel, München, 2009. Ausschnitt des Buch-Covers
Zitate: Herta Müller, Atemschaukel, München, 2009. S. 24f