Im kühlen Fluss

Die Tage sind heiss. Ein Bad im kühlen Fluss tut gut. So laufe ich den Fluss entlang und weiss, dass ich in wenigen Minuten in ihn hineinspringen werde und mich einfach wieder hinuntertragen lassen kann, ohne etwas tun zu müssen: mich treiben und abkühlen lassen.

Oft habe ich das Gefühl, dass ein Flussbad mindestens eine Stunde Psychotherapie im Leben ersetzt – es macht so glücklich.

Und dann ist solch ein Bad für mich auch eine stimmige Allegorie für den Begriff «Gnade» im christlichen Verständnis. Das meine ich so:
Gnade ist einfach da, ohne Vorbedingung, für alle. Gnade meint, dass ich von Gott wahrgenommen, bejaht und geliebt werde. Einfach so, weil ich bin. Ich kann diese Bejahung für mich in Anspruch nehmen, aber niemand zwingt mich dazu. So wenig, wie ich in den Fluss steigen muss. Der Fluss ist auch dann da, wenn ich ihn nicht in Anspruch nehme.
Ich kann ausprobieren, wie es für mich ist, mich im Raum der Gnade zu bewegen, wie es ist, auf diese liebende Zuwendung zu vertrauen – was das mit mir macht. So wie eben viele das Bad im Fluss ausprobieren und schauen, ob es ihnen guttut.

Aber so wenig, wie das Leben ohne Flussbad ein verfehltes Leben ist, so wenig ist ein Leben verfehlt, das das Gnadenangebot des Glaubens nicht in Anspruch nimmt.
Man verpasst allenfalls etwas, was beglückt, Kraft und Zuversicht gibt. Wie das Glück, im kühlen Wasser zu sein.

Und dann gibt es Menschen, die schöpfen so selbstverständlich aus einem Urvertrauen ins Leben, ohne dies mit dem Glauben zu verbinden, dass sie sozusagen das Bad im Fluss gar nicht nötig haben. Die spüren die Kühle des Wassers sowieso. Und was will man begnadeten Menschen von der Gnade erzählen?

Ich jedoch brauche den Sprung in den kühlen Fluss – und den Raum der Gnade.

Abb: Flussbad Berlin. Quelle: https://futurearchitectureplatform.org/projects/ebfd3e98-e463-41fb-b08e-5a035ed91ee1/