In der Welt vor Anker gehen

Im 15. Jahrhundert hatte sich in Europa die Schifffahrt so weit entwickelt, dass Reisen über die grossen Ozeane zu anderen Kontinenten möglich wurden. 1492 landete Columbus auf den Bahamas. Kolonien wurden gegründet, und von nun an brachten Segelschiffe wundersame, fremde Waren aus Welten, die für die meisten Menschen unerreichbar waren. Damit einher gingen Erzählungen der Seeleute über diese andere Welt mit ihren Pflanzen, Tieren und Menschen.

Das Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen“ stammt aus dieser Zeit. Die ältesten drei Strophen sind wohl schon im 14. Jh geschrieben worden, die folgenden vermutlich im 17. Jh.

«Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein’ höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort.»

Das war wohl ein stimmiges Bild für die Menschen jener Jahrhunderte: Jesus, der Gottessohn, als ungeheuer wertvolles Gut. Und ein Schiff, bis an den Rand voll von diesem Gnadengut! Und so, wie die Waren von jenseits der bekannten Welt zu den Menschen kamen, so kam Gott in diesem Jesus aus dem Jenseits, wie über ein schier endloses Meer, um in unserer Welt vor Anker zu gehen.

«Der Anker haft’ auf Erden, da ist das Schiff am Land. Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt.»

Heute ist uns dieser Text fremd. Längst wissen wir, wie blutig die Geschichte des Kolonialismus verlaufen ist – mit Folgen bis in die Gegenwart. Und noch fremder ist uns wohl der ursprüngliche Hintergrund des Bildes vom Schiff: Im Mittelalter wurde die schwangere Maria allegorisch als beladenes Schiff gedeutet.

Immer wieder muss neu nach einer angemessenen Sprache gesucht werden, um das wundersam Fremde des Weihnachtsgeschehens sagbar zu machen. Und dies als etwas, das uns auch fern bleibt. So wie die Erzählungen der Seeleute im 15. Jahrhundert.

Abb: Hendrick Cornelisz Vroom, Ostindienfahrer vor der Küste, zwischen 1600 und 1630, Rijksmuseum, Amsterdam.
Quelle: Wikimedia Commons.