Ins Netz geraten
«Auch kennt der Mensch nicht seine Zeit: Wie die Fische, die ins tückische Netz geraten, wie die Vögel, die gefangen werden, so werden die Menschen verstrickt zur Zeit des Unglücks, wenn es sie plötzlich überfällt.» (Buch Prediger, Kapitel 9, Vers 12)
Die betagte Frau erzählt von ihrer Kindheit und Jugend im Ostpreussen der 30er- und 40er-Jahre. Eine glückliche Zeit mit viel Arbeit, aber auch Freiheit, weiten Landschaften und endlos langen Sommern.
Jäh wurde das alles durch den Krieg zerstört: Flucht, Monate des Grauens, Hunger, der Tod des Vaters, harter Neubeginn als unerwünschte Geflüchtete im Westen Deutschlands.
Das Unglück hat diese Frau überfallen. Natürlich hatte es Ursachen. Die Zerstörung Deutschlands am Ende des 2. Weltkriegs geschah nicht grundlos. Aber als Kind und Jugendliche hatte die Frau keine Verantwortung dafür. Sie war dem Unheil ins Netz geraten, war in dieses Schicksal verstrickt.
Jahre später erfuhr sie, dass von dem Dorf, in dem sie so glücklich aufgewachsen war, kein einziges Haus mehr steht. Es gibt diesen Ort nicht mehr. Das ist und bleibt ein tiefer Schmerz für sie.
Das Buch Prediger versteht es, die manchmal schreckliche Lebenswirklichkeit von uns Menschen in grösster Nüchternheit zu beschreiben – ohne vorschnelle Heilsversprechen, die über Unglück und Trauer hinweggehen. Die Hilfe, die das Buch angesichts der Ungerechtigkeiten des Lebens bietet, ist die Aufforderung, auch alles Gute und Erfüllende zu sehen und es bewusst auszukosten: «Und wenn irgendein Mensch bei all seiner Mühe isst und trinkt und Gutes geniesst, ist auch dies ein Geschenk Gottes.» (Prediger 3,13)
Der betagten Frau ist es gelungen, im neuen Leben Fuss zu fassen.
Und wir haben zusammen ein paar Gläschen ostpreussischen Likör getrunken.
Abb: Ostpreußen, Landschaft bei Kutten, 1930, Bundesarchiv B 145 Bild-P017323. Foto: A. Frankl