Ismael – der Bruder
Lieber Ismael
Ich kenne dich nicht sehr gut. In meiner christlichen Tradition bist du eine Randfigur. Zwar schon ein Kind Abrahams, aber der Wichtige ist dein jüngerer Halbbruder Isaak. Du verschwindest dann schnell irgendwo in der Wüste, und man hört nichts mehr von dir.
Dabei: Wenn ich genau hinschaue, was ich in meiner Bibel über dich erfahre, dann komme ich ins Staunen! Als Gott mit deinem Vater einen Bund schloss, der ihm reiche Nachkommenschaft verhiess und dessen Zeichen die Beschneidung war, da wurdest du ausdrücklich auch beschnitten und also in diesen Bund mit dem Gott, an den ich glaube, aufgenommen. Nicht genug! Darüber hinaus wurdest du von Gott noch speziell gesegnet: Auch du solltest viel Nachkommenschaft haben.
Und unser Gott ist dir treu geblieben. Als deine Mutter mit dir von zuhause weggeschickt wurde und ihr kein Wasser mehr hattet, hat er dein Weinen gehört und ihr habt doch noch einen Brunnen gefunden. Deshalb bedeutet dein Name ja auch «Gott hat erhört.»
Es scheint dann gut herausgekommen zu sein. Meine Bibel erzählt, dass du zwölf Söhne hattest. Sie haben zwölf Stämme in der Wüste begründet. Gott war ziemlich fair: Aus der Nachkommenschaft deines Bruders Isaak sind auch zwölf Stämme entsprossen.
Er und du – ihr hattet wenig Gelegenheit, euch kennenzulernen. Schon bald nach seiner Geburt wurdet ihr getrennt.
Ich finde das tragisch. Ihr habt doch so viel gemeinsam! Vor allem diesen besonderen Segen Gottes.
Und: Eigentlich bist du nicht nur Isaaks Bruder; du bist auch meiner – im Glauben an den einen Gott.
Bleib gesegnet, Ismael
Hinweis: Nach jüdischem, christlichem und muslimischem Verständnis ist Ismael der Stammvater des arabischen Volkes. Wegen seines Glaubens an den einen und einzigen Gott gilt er, wie Abraham, im Islam als wahrer Muslim; zudem als Miterbauer der Kaaba. Die Linie über Isaak hingegen begründet das Volk Israel. Aus ihr entstammt Jesus.
Abb: Gustave Doré, Austreibung Ismaels und seiner Mutter, 1865. Quelle: Wikimedia Commons