Ja, ich habe gebetet

Gestern vor 20 Jahren ereignete sich eine der grössten Naturkatastrophen der Geschichte: Der Tsunami, der in Indonesien, Thailand, Sri Lanka und Indien etwa 230’000 Menschen das Leben kostete. In den vergangenen Wochen wurde u.a. mit Dokus an diese Katastrophe erinnert. In ihnen kommen viele Überlebende zu Wort.

Mir ist aufgefallen, wie oft die Betroffenen erzählen, sie hätten in diesen Momenten der absoluten Lebensbedrohung gebetet. Menschen unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen Religionszugehörigkeiten haben solche Aussagen gemacht. Ein Mann sagt: «Ja, ich habe gebetet. Ich weiss nicht, zu wem, aber ich habe auf jeden Fall gebetet, noch eine Chance zu bekommen.»

Offenbar ist es ein urmenschliches Phänomen, sich in existentieller Not an eine höhere Macht zu wenden, auch wenn man gar nicht genau weiss, an wen man sich da wendet. Und es scheint sich um ein kultur- und religionsübergreifendes Verhalten zu handeln.

Dank der wissenschaftlichen Fortschritte kontrollieren wir einen grossen Teil unserer Lebensbereiche. In der westlichen Welt verfügen wir über nie dagewesene Autonomie. Aber eben nur begrenzt. Denn im Letzten bleiben wir ausgesetzt: Wir bestimmen unser Werden nicht, sondern werden geboren, mit einem Erbgut, das wir nicht gewählt haben. Ebenso schieben wir zwar unser Lebensende immer weiter hinaus, können ihm dennoch nicht entrinnen. Und es gibt Ereignisse wie den Tsunami, die uns jeglicher Kontrolle berauben .

Der deutsche Theologe Friedrich Schleiermacher definierte im 19. Jh. Religion als ein «Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit». Religion war für ihn eben genau dies: Zu erleben, dass ich ausgesetzt bin und meine Kontrolle begrenzt ist. Zu erleben, dass ich auf etwas angewiesen bin, das weiter ist als ich selbst. Wenn Menschen einem Ereignis vollständig ausgeliefert sind, wenden sie sich diesem «Etwas» zu. Das ist nicht schwach oder lächerlich, sondern urmenschlich. Es ist der Kern des Religiösen, der uns miteinander verbindet.

Abb: Ozeanwelle an der Ngarunui Beach, Neuseeland. Foto: Tim Marshall, 2016. Wikimedia Commons