Jesus, unsere Mutter
«Die Mutter kann ihr Kind an ihre Brust zärtlich legen, aber unsere zarte Mutter Jesus kann uns in seine heilige Brust durch seine süsse geöffnete Seite heimführen, und dort uns Anteile der Gottheit und die Freuden des Himmels (…) zeigen.»
Diese Worte stammen von der mittelalterlichen Mystikerin Juliana von Norwich.
In ihren Visionen erschien ihr Jesus in ausgeprägt mütterlicher, weiblicher Weise. So bezeichnet sie Christus sogar dann als Mutter (und Allweisheit), wenn sie von der Dreifaltigkeit spricht, also der Vorstellung, dass Gott als Vater, Sohn (Christus) und Heiliger Geist in Erscheinung tritt. Bei Juliana heisst es: «Unsere Substanz ist in unserem Vater, Gott dem Allmächtigen, und unsere Substanz ist in unserer Mutter, Gott der Allweisheit, und unsere Substanz ist in unserem Herrn Gott dem Heiligen Geiste, der Allgutheit, denn unsere Substanz ist ganz in jeder Person der Dreifaltigkeit, die ein Gott ist.»
Die Erkenntnis, dass Kategorien wie «männlich» und «weiblich» nicht so eindeutig sind, wie wir es lange glaubten, mag uns als etwas Neues erscheinen. Die Visionen der Juliana deuten jedoch darauf hin, dass dies bereits im Mittelalter so gesehen wurde. Und neuere Untersuchungen zeigen, dass geschlechtliche Identität damals deutlich fluider wahrgenommen wurde als in unserer jüngeren Vergangenheit. Juliana spricht Jesus als Mann an («seine heilige Brust») und kann ihn trotzdem Mutter nennen.
Dabei ist sie nicht etwa eine verpönte Schwärmerin. Sie ist von der katholischen Kirche seliggesprochen worden.
So bietet die christliche Tradition einen reichen Schatz an Gottesvorstellungen, der mir hilft, von Gott – und von meinen Mitmenschen – nicht zu eng zu denken.
Abb: David Holgate, Juliana von Norwich, Norwich Cathedral, 2000. Foto: Tony Grist, 2012. Wikimedia Commons