Josef, queer gelesen

Die biblischen Erzählungen um Josef sind vielen bekannt. Josef ist der Lieblingssohn Jakobs, ist aber bei seinen elf Brüdern verhasst. Sie verkaufen ihn als Sklaven. So gelangt er nach Ägypten, wo er es dank seiner Fähigkeit, Träume zu deuten, bis zum Statthalter bringt. Als eine Hungersnot ausbricht und seine Brüder in Ägypten um Hilfe ersuchen, kommt es zur Versöhnung. Am Ende ziehen sie zusammen mit Vater Jakob zu Josef und lassen sich in Ägypten nieder.

So weit, so vertraut. Aber es gibt noch ganz andere Seiten an Josef, die kaum bekannt sind. Ich bin durch den Bericht eines Kollegen darauf gestossen. Es ist nämlich auffällig, wie stark im biblischen Text die äussere Gestalt Josefs betont wird. So wird ihm von seinem Vater ein besonderes Kleidungsstück geschenkt. Der hebräische Ausdruck dafür wird sonst nur noch einmal in der Bibel verwendet. Dort bezeichnet er aber das Kleid der Tochter von König David. Und es heisst, dass solche Kleider von Königstöchtern getragen werden. Der Mann Josef also im Prinzessinnengewand! Und als Mann galt er im alten Israel, war er doch siebzehn, wie Genesis 37,2 festhält. Erstaunlich nur, dass es dort auch heisst, Josef sei ein na’ar, ein Knabe. Ein Begriff, der in der Regel für ein Kind verwendet wird. Und dann gibt es auch Hinweise auf die Schönheit Josefs (Gen 39,6), mit Worten, die ansonsten zur Beschreibung weiblicher Schönheit dienen!

So entsteht das Bild eines Menschen mit wenig männlichen, aber vielen weiblichen Facetten: Eine feminin schöne Gestalt, die wie eine Prinzessin gekleidet ist. Und man darf sich fragen, ob die Bibel hier von einer Person erzählt, die aus heutiger Sicht als queer oder non-binär bezeichnet würde. Während wir aber bei diesen Begriffen schnell an sozial nicht akzeptierte Menschen am Rand der Gesellschaft denken, handelt es sich bei Josef um die von Gott auserwählte Person, durch die die göttlichen Verheissungen an Israels Urvater Abraham weitergewirkt haben!

Abb: Johann Friedrich Overbeck, Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, 1817, Alte Nationalgalerie, Berlin. Wikimedia Commons