Klare Rede
Als Kind lebte ich ein paar Jahre im Walliser Dorf Täsch, und einmal erzählte der Lehrer uns während des Unterrichts die folgende Geschichte:
Im Tal zwischen Täsch und Zermatt gab es ein Stück Wiese, von dem niemand genau wusste, wem es gehörte, und beide Orte stritten sich um die Eigentumsrechte. So schickten sie nach dem Richter, der dann auch von Visp heraufkam und beide Parteien auf die besagte Wiese bestellte. Am Tag des Lokaltermins ging der Dorfvorstand von Täsch frühmorgens in die Küche, holte einen Sossenlöffel aus der Schublade und steckte ihn unter seinen Hut. Aus seinem Garten nahm er eine Handvoll Erde und tat ein wenig davon in seine Schuhe. Dann machte er sich auf den Weg. Bei der Wiese angekommen, wollte der Richter beide Parteien hören. Der Vertreter von Täsch stellte sich breitbeinig hin, hob die Hand zum Schwur und sagte: «So wahr der Schöpfer über mir ist, stehe ich auf meinem Boden.» Dem konnte der Ammann von Zermatt wenig entgegenhalten, und die Wiese wurde den Täschern zugesprochen. Das Land sollte ihnen aber keine Freude machen, denn jeden Winter gingen dort heftige Lawinen nieder, und so recht gedeihen wollte dort nichts.
Die Geschichte vom schlitzohrigen Gemeindevorstand ist höchstwahrscheinlich nicht historisch. Sie wird in vielen Varianten von verschiedenen Orten erzählt. Einerseits hat sie etwas Amüsantes, und zugleich zeigt sie, dass bisweilen auch hinter wahren Worten eine Lüge steckt, weil Worte mehrdeutig sein können. Vielleicht sagt deshalb Jesus in der Bergpredigt: «Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören.» (Mt 5,34a) und «Euer Ja sei ein Ja, und euer Nein sei ein Nein. Jedes weitere Wort ist von Übel.» (Mt 5,37)